Was hat Verschlafen mit AD(H)S zu tun?

Okt 4, 2023 | 2 Kommentare

„Oh nooooo! Das gibt´s doch gar nicht: Schon wieder verschlafen!!!“ Ständiges Verschlafen – und die ablehnende bis wütende Reaktion des Arbeitgebers und der Kolleg:innen darauf. – Ja, genau: Autsch! Du kannst dir direkt vorstellen, wie unangenehm diese Situation sein muss und dass diese sogar existenzgefährdend sein kann.

Wenn dir das selbst nie oder nur allerhöchstselten mal passiert, wirst du vielleicht auch denken: „Wie wär´s mal mit ´nem Wecker? Oder früher ins Bett gehen?“

Für diejenigen, die die bleierne Schwere am Morgen kennen und auch trotz verschiedener, in allen Ecken des Zimmers aufgestellter Wecker nicht ansatzweise genug wach werden um aufzustehen, hier eine erleichternde Nachricht: Ihr seid absolut nicht allein! Ich kenne viele, die selbst damit zu kämpfen haben oder deren Kinder morgens einfach nicht wach zu kriegen sind.

In diesem Beitrag möchte ich darauf eingehen, wie AD(H)S sich auf unseren Schlaf und unser Schlafbedürfnis auswirken kann und weshalb es vielen so schwer fällt, morgens aus dem Bett zu kommen. Dazu beginne ich erst einmal etwas globaler, so dass es sich auch dann lohnt weiter zu lesen, wenn du dieses Problem selbst nicht hast:

 

Was uns allen fehlt: Ruhe!
Das Bedürfnis nach Schlaf und die optimale Schlafenszeit sind äußerst individuell. Was wir aber alle gemeinsam haben, ist, dass es unseren Körpern schadet von morgens bis abends durchgehend aktiv zu sein und nur den Nachtschlaf zur Regeneration von Körper und Geist zu nutzen. Aus folgendem Grund: Unser vegetatives Nervensystem besteht aus zwei Gegenspielern: dem Sympathikus und dem Parasympathikus, die im ständigen Wechsel dafür sorgen, dass unser Körper funktioniert. Nur wenn dieser Wechsel gewährleistet ist, sind wir in unseren aktiven (sympathischen) Phasen auch wirklich leistungsfähig. Das Fehlen parasympathischer („rest and digest“) Phasen im Laufe des Tages schadet unserer Aufmerksamkeit, unserer Gesundheit und unserer Zufriedenheit und verhindert, dass wir unser Potential voll ausschöpfen.

 

Wie macht es die Verwandtschaft?
Schauen wir uns doch mal im Tierreich um, zu dem wir im weiteren Sinne schließlich auch zählen: Mir fällt kein Säugetier ein, dass nicht auch tagsüber immer wieder Ruhepausen einlegt. Denk mal an die Katze, die sich genüsslich in der Sonne räkelt und das Faulsein zelebriert. Sie bereitet sich auf diese Weise äußerst gekonnt auf ihren Streifzug durch die Nachbarschaft und auf die totale Konzentration beim Mäuse- und Vögeljagen vor. Würde man diese Katze zwingen (keine Ahnung, wie man das schaffen könnte), den gesamten Tag über aktiv und hochkonzentriert zu sein, wie erfolgreich würde sie wohl jagen? Ich denke, indem man ihr ihre Ruhephasen entzöge, würde man sie ihres riesigen Potentials berauben, ihres absoluten Fokuses auf die Jagd, ihrer Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit. Sie würde sicherlich nicht mehr viel fangen. Zum Glück spüren Tiere: Keine Regeneration, keine Leistung. Clever!

 

Schade um unser Potential!
Nur wir, die „Krone der Schöpfung“, glauben, wir wüssten es besser als unser Körper, und zwingen uns den ganzen Tag über durchzuhalten, in der Annahme, ein paar Stunden Nachtschlaf könnten uns schon wieder hinkriegen. Warum sind Kaffee, Cola und Energy-Drinks wohl so beliebt? 😉 Was wir uns in Wirklichkeit antun: Wir vergeuden unser immenses Potential!

 

Wieso fällt uns dieses Problem kaum auf?
Menschen mit einem durchgehend mindestens zufriedenstellendem Level an Dopamin (die meisten Menschen) haben eine eher hohe Frustrationstoleranz und eine weitgehend funktionierende Impulskontrolle. Sie schaffen es daher, die Signale ihres Körpers zu unterdrücken und sich zu zwingen, halbwegs bei der Sache zu bleiben und zumindest irgendwie durch den Tag zu kommen, ohne unangenehm aufzufallen. Deshalb kann man leicht übersehen, wie inkompatibel unsere „moderne“ Gesellschaft und die Bedürfnisse des menschlichen Körpers und Geistes sind.

Auch diejenigen, die mit einem Alltag ohne Pausen offenbar prima zurechtkommen, nehmen langfristig physischen und psychischen Schaden, ohne dass sie dies ihrem in unserer Gesellschaft völlig normalen Lebensstil zuschreiben würden. Definitiv aber hindert er sie daran, ihre Leistungskraft vollständig abzurufen und ihre Kreativität und Genialität zu entdecken und auszuleben.

 

Heftige Reaktionen bei Menschen mit AD(H)S
Ein Mensch mit AD(H)S nimmt in derselben Situation die Signale seines Körpers sehr deutlich wahr, denn aufgrund eines Mangels an Dopamin und eines dadurch viel durchlässigeren „Reizfilters“ nimmt er Gefühle viel, viel stärker wahr und hat keine Chance, diese auszublenden. Er fühlt sich überfordert und frustriert, weil er deutlich merkt, dass sein Körper, allen voran sein Gehirn, nicht mehr mitmacht. Diesen Frust kann er nur leider auch nicht filtern. Genauso wenig wie die Impulse, die sich aus diesem Frust ergeben.

Die Folgen: Die Person mit AD(H)S fällt womöglich auf, da sie sich „wegträumt“, das Thema wechselt, dazwischenquasselt, zappelig wird, sich über die Anforderungen beschwert, sich weigert weiterzuarbeiten (weil sie in der Tat nicht mehr weiterarbeiten kann), ungehalten wird, „aneckt“ und einfach wirklich schwierig im Umgang ist. Oder verschläft. Oder an der Ampel einschläft. Oder in der Schule. Oder im Meeting. Und im Kino, im Gespräch…

 

Menschen mit AD(H)S als Seismographen
Es klingt gemein, aber als Gesellschaft können wir dankbar sein, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihres fehlenden Reizfilters Probleme mit dem „Dauerleisten“ haben. Denn nur so sehen wir uns vielleicht gezwungen, den Ist-Zustand zu überdenken und uns für neue Wege im Lernen und Arbeiten zu öffnen. Wege, die nicht nur Menschen mit AD(H)S zu Gute kommen würden, sondern ALLEN!

 

Gründe für das Verschlafen bei AD(H)S

1 Zu wenige Ruhephasen im Verlauf des Tages:

Wer täglich gegen seinen Körper anarbeitet und ihm seine nötigen Ruhephasen vorenthalten muss, wird feststellen, dass der Nachtschlaf nicht genug ist. Das morgendliche Aufstehen wird dann für viele zum Martyrium.

2 Schwacher Reizfilter und unzuverlässige Impulskontrolle
Besonders betrifft dies diejenigen, die ihre körpereigenen Signale aufgrund einer AD(H)S nicht oder nur wirklich schlecht unterdrücken können. Der Impuls, sich noch einmal umzudrehen, kann dann nicht oder nur schwer kontrolliert werden, der Körper gewinnt über den Geist. Der Mensch bleibt liegen.

3 Erschöpfung durch AD(H)S-Hürden
Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund der Reizoffenheit bei AD(H)S und der AD(H)S-bedingten Hürden der Tag als besonders anstrengend und ermüdend empfunden wird, weshalb Betroffene ein umso größeres Bedürfnis nach Regeneration haben.

4 Verschiebung der Schlafphasen durch nächtliches Gedankenkarussell
Zudem finden viele Menschen mit AD(H)S nur schwer in den Schlaf, da ihre reiche Gedanken- und Gefühlswelt sie auch oft spät am Abend noch auf Trab hält oder sie nachts aufwachen lässt. Der dringend benötigte Schlaf kommt dann leider erst sehr spät oder wird immer wieder unterbrochen, was dazu führen kann, dass die Person mit AD(H)S sich am Morgen noch in der Tiefschlafphase befindet, die eigentlich um diese Uhrzeit schon vorbei sein sollte und aus der man leider nur sehr schwer erwacht.

5 Bedtime Procrastination:
Manche Menschen mit AD(H)S machen auch die Erfahrung, dass sie die Abendstunden, in denen sie endlich selbstbestimmte Zeit verbringen und für sie motivierenden Tätigkeiten nachgehen können, so genießen, dass sie sich nicht dazu durchringen können ins Bett zu gehen. Es fällt ihnen zum Teil mehr als schwer, (sogar selbstgesteckte) Ziele wie „Ich gehe geregelt um 10 Uhr ins Bett“ einzuhalten, denn auch dazu fehlt allzu oft die nötige Frustrationstoleranz.

6 Verkriechen am Nachmittag:
Ich kenne viele Menschen mit AD(H)S, die sich nach der Schule oder nach der Arbeit so erschlagen und überreizt fühlen, dass sie soziale und/oder sportliche Veranstaltungen meiden und sich lieber in den eigenen vier Wänden verkriechen. Dadurch kann ein Mangel an Bewegung, an positiven Kontakten, frischer Luft und Sonne entstehen, die einem gesunden und zufriedenem Einschlafen zuträglich wären. Das rächt sich dann am Morgen.

Und jetzt?
Müssen wir leider auf den nächsten Blogbeitrag warten, in dem es um Strategien gehen soll, wie man morgens pünktlich aus den Federn kommt. Schreibt mir gerne eure Erfahrungen und Tipps! Danke!

2 Kommentare

  1. Wow!
    Was für wichtige Infos und Erkenntnisse. Jedes Mal wieder.

    Wie unfassbar wichtig und wertvoll.

    Vielen Dank, liebe Vera, für Deine grandiose Art und Arbeit ✨
    🙏

    Antworten
    • Lieber Thomas! Das geht „runter wie Öl“. Ich freue mich total, dass wir uns immer so wunderbar über diese Themen austauschen können. Danke für dein wunderschönes Feedback!

      Antworten

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