„Was habt ihr denn? Bei mir ist er/sie immer so lieb!“

Feb 15, 2024 | 5 Kommentare

Beispiele, die das Leben schreibt:

Eine Mutter erzählt: „Bei mir ist es gar nicht so, dass die Verwandtschaft mich nicht unterstützen will. Die wollen mir schon helfen, aber sie sind einfach gar keine Hilfe für mich, weil sie mir zwar Aufgaben abnehmen, mir aber immer wieder zu verstehen geben, dass ich mir die Probleme mit meinem Sohn nur einbilde oder diese sogar selbst erzeuge. Wenn meine Schwiegermutter ein paar Stunden auf ihn aufpasst, ist sie sehr stolz auf sich und sagt zu mir: „Ich verstehe dich nicht. Der Basti war mal wieder so lieb! Wir haben ganz toll gespielt und uns super verstanden. Der ist doch ein ganz normaler Junge! Der hat doch nicht dieses ADHS.“ Meine Schwiegermutter hat ihn gerade hier abgeliefert und steht noch in der Tür, da rastet Basti aus, weil sein Bruder den letzten Joghurt aus dem Kühlschrank genommen hat. Der Wutanfall zieht sich über 45 Minuten. Eine weitere Türzarge muss dran glauben… Und meine Schwiegermutter schaut mich vielsagend an und meint: „Bei mir ist er ein ganz anderes Kind. Was ist denn da bei euch los?““

Ein Vater berichtet: „Ich denke, meine Frau und meine Tochter Luisa (9 Jahre) haben ein großes Problem miteinander. Ständig rastet meine Tochter bei den Hausaufgaben aus und greift meine Frau verbal und manchmal sogar körperlich an. Wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, ist meine Frau völlig ausgelaugt und am Ende und heult, weil sie wieder so einen Hausaufgabenkrieg hatten. Sie muss einfach konsequenter sein und Luisa mal deutlich zeigen, wer das Sagen hat. Das versuche ich ihr immer wieder klarzumachen, aber sie setzt sich einfach nicht durch. Also mir gegenüber verhält sich meine Tochter nicht so.“

Ein Lehrer ist verwundert: „Dass der Basti ADHS haben soll, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Er ist eher ruhig und arbeitet langsam. Er ist auch etwas verträumt und schusselig, aber das sind ja schließlich viele. Mir kommt er sogar besonders angepasst vor. Deshalb kann ich mir gar nicht vorstellen, was die Mutter von ihm erzählt. Hier hat er noch nie einen Wutanfall bekommen und ist wirklich sehr umgänglich. Angeblich ist er „mit der Kneifzange nicht anzufassen“, wenn er aus der Schule kommt. Die Eltern haben massive Probleme mit ihm, sagen sie. Er weine auch viel und wolle morgens nicht aufstehen. Ich frage mich echt, was bei denen zu Hause los ist.“

 

Klares Urteil: „Elterliches Versagen“
Wie kann das sein? Das müssen doch Erziehungsprobleme sein, oder? Wenn das problematische Verhalten vor allem zu Hause auftritt?! Das KANN ja nur daran liegen, dass die Eltern da grundlegend etwas falsch machen! Früher hätten sich Kinder so ein Verhalten bestimmt nicht erlaubt! Da fehlt doch ganz offensichtlich eine „strenge Hand“!

Es fühlt sich gut an, wenn man die Schuldfrage so einfach klären kann. Wenn der Schwarze Peter so selbstverständlich an die Eltern – am liebsten an die Mutter – vergeben werden kann. Wenn man mit selbstgefälligem Blick und ein wenig kopfschüttelnd auf die Personen herabblicken kann, die es ganz offenbar verbockt haben. „Tja, die Suppe müssen die dann wohl jetzt selbst auslöffeln. Nur schade, dass den armen Kindern dann eine Krankheit angedichtet wird, nur weil die Eltern so inkompetent sind.“

 

Warnhinweis:

Solltest du als außenstehende Person diese bequeme Position einnehmen und am allerliebsten in ihr verharren wollen, lies nicht weiter. Informiere dich lieber nicht, denn dein Weltbild könnte ins Wanken geraten und Schaden nehmen. Es könnte auf einmal sehr schwierig werden, die geliebte Schuldfrage zu klären.

 

Bereit für einen Perspektivwechsel?

Toll, dass du weiterliest! Dann bist du vielleicht selbst von dieser Situation betroffen, oder du interessierst dich wirklich, wirklich dafür, was da im Leben von vielen Menschen mit ADHS und ihren Familien passiert. In diesem Fall: DANKE im Namen unzähliger Familien, die sich nichts sehnlicher wünschen, als mit ihren besonderen Herausforderungen angenommen und unterstützt zu werden statt verurteilt und belächelt. DANKE!

 

Masking:

Menschen mit ADHS nehmen aufgrund ihres sehr durchlässigen Reizfilters Kritik und negative Bewertung verstärkt wahr und fühlen den Schmerz einer Zurecht- oder Zurückweisung oft sogar körperlich. Zu erleben, den Anforderungen nicht zu genügen, kann für Menschen mit ADHS eine besonders schmerzhafte Erfahrung sein und Ängste und Depressionen auslösen.

Um dem vernichtenden Gefühl eines negativen Feedbacks zu entgehen, maskieren die allermeisten neurodivergenten Menschen (z.B. mit Autismus oder ADHS) nach Möglichkeit ihre Symptome. Und das können viele von ihnen wirklich gut! Es ist nur sehr, sehr anstrengend. In vertrauter Umgebung kann die „Maske“ dann endlich fallen und die angestauten Gefühle brechen hervor. Diese Ausbrüche treffen dann in der Regel die Menschen, zu denen man die sicherste Bindung hat – bei Kindern in der Regel die Eltern oder der Elternteil, bei dem sie sich am sichersten angenommen und verstanden fühlen.

 

Die Beispiele von oben: Eine andere Sicht:

Basti ist schlau, erlebt den Schultag dennoch als extrem anstrengend. Die Aufgabenfülle erschlägt ihn, die Lautstärke und der Kontakt zu so unglaublich vielen Menschen setzt ihm zu, er kämpft darum aufmerksam zu sein oder wenigstens so auszusehen und nicht unangenehm aufzufallen. Manchmal geht er die ganze Pause über aufs Klo, weil ihm einfach alles zu viel ist. Nach der Schule holt ihn dann seine Oma ab, bei der er zu Mittag isst und mit der er meistens noch irgendein Gesellschaftsspiel spielt. Oma ist sehr nett, solange er sich gut benimmt. Dann lobt sie ihn und er fühlt sich wie ein richtig toller Junge. Trotzdem ist er heilfroh, wenn er dann endlich nach Hause darf, denn er merkt, dass es immer mehr in ihm brodelt und er es nicht mehr lange schaffen wird, „ein braver Junge“ zu sein. Als er nach Hause kommt und feststellt, dass sein Bruder seinen Lieblingsjoghurt verputzt hat, setzt es bei ihm aus. Er schreit nach Leibeskräften, schimpft auf seinen Bruder und knallt die Küchentür zu. Seine Oma steht schockiert in der Haustür, aber zum Glück gibt sie Mama die Schuld, nicht ihm.

Luisa hasst die Hausaufgaben. Sie hat große Probleme mit der Rechtschreibung und dem Lesen, obwohl das auch um einiges besser geworden ist, seit sie morgens eine Tablette nimmt. Seitdem kann sie dem Unterricht besser folgen. Aber nachmittags, wenn sie nach Hause kommt, ist die Wirkung weg und in ihrem Kopf entsteht wieder Chaos. Und dann soll sie auch noch Hausaufgaben machen. Es fühlt sich so an, als hätte sie in der Schule eine Brille aufgehabt, mit der die Aufgaben einen Sinn machten und lösbar waren. Und wie soll sie die Hausaufgaben ohne lösen? Nachmittags fühlt sie sich so, wie sie sich früher den ganzen Tag gefühlt hat. Sie hat tausend Ideen, fängt alles an, bringt aber wenig zu Ende. Sie wird auch sehr schnell wütend und sieht dann irgendwie rot. Zum Glück hat ihre Mama sie trotz allem sehr lieb und hat viel Geduld mit ihr. Auch, wenn Mama ab und zu weint, weil das Hausaufgabenmachen mit Luisa so ein Drama ist… Wenn Papa nach Hause kommt, reißt Luisa sich so gut sie es irgendwie schafft zusammen, weil sich Papa und Mama sonst wieder streiten. Papa meint nämlich, Mama macht alles falsch. Das kann sich Luisa beim besten Willen nicht vorstellen. Hoffentlich sagt Papa so etwas nie zu ihr. Das fände sie schrecklich!

 

Eltern zuhören und unterstützen ohne den Stab über sie zu brechen
Vielleicht zeigen die Situationen von Luisa und Basti und ihren Familien, dass die Realität oft doch gar nicht so simpel ist wie sie auf den ersten Blick scheint, und wie groß das Unrecht ist, das man Eltern tun kann, wenn man mit erhobenem Zeigefinger anmahnt, es stimme da wohl etwas mit ihrer Erziehung nicht, die Probleme seien wohl „hausgemacht“.

Meine riesgengroße Bitte: Hört Familien mit ADHS zu, glaubt ihnen, lasst euch erklären, was da wirklich passiert und bietet eure Hilfe an, ohne ein zusätzliches Gefühl von Scham und Versagen in den Eltern zu erzeugen. Denn dieses Gefühl begleitet sie sowieso, und es macht das Leben mit ADHS um ein Vielfaches schwerer. DANKE für dein Interesse. Teile diesen Beitrag gerne, damit Familien mit ADHS mehr Akzeptanz und Verständnis und weniger Verurteilung begegnen!

5 Kommentare

  1. Sehr sehr toller Beitrag
    Vielen Dank

    Antworten
    • Dankeschön! 🙂

      Antworten
  2. Liebe Vera,
    in jahrelanger Tätigkeit im Vorstand einer ADHS Selbsthilfegruppe für Eltern betroffener Kinder und als Mutter eines mittlerweile 27jährigen Sohnes kann ich nur jedes einzelne Wort von Dir mehrfach bestätigen und unterstreichen! Oft waren dann noch alleinerziehende Mütter völlig verzweifelt, weil ihr vom Umfeld die Schuld nicht nur am Verhalten des Kindes sondern auch am Scheitern der Ehe/Beziehung gegeben wurde…
    Dabei ist es nicht das Unvermögen der Mütter gewesen, die überwiegend wirklich ALLES menschenmögliche versucht hatten, ihrem Kind zu helfen… sondern meistens das Unverständnis und das Kleinreden der Probleme durch Väter/Partner, Großeltern und Verwandte, die irgendwann eine Trennung befeuert haben.

    Toll wie Du darüber aufklärst! Vielen Dank dafür und weiter viel Erfolg!
    Karin

    Antworten
    • Danke, liebe Karin! Dich kennenzulernen war damals mein erster Schritt in Richtung Selbsthilfe ;). Und du hast total Recht: Ein Familienleben mit ADHS ist schon Herausforderung genug und geht sowieso schon oft schief, da muss man sich nicht noch gegen- oder einseitig die Schuld für die Probleme in die Schuhe schieben. Gerade Mütter reißen sich oft die Beine aus um ihre Kinder zu unterstützen und ernten nicht selten Unverständnis oder zumindest Desinteresse bei ihren Partnern. Auch unsere Selbsthilfegruppe für Eltern/Angehörige ist vorwiegend (aber zum Glück nicht ausschließlich!) weiblich. Danke für deinen Kommentar!

      Antworten

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