Vorweihnachts-Special: Von Respekt und Disziplin

Dez 3, 2023 | 0 Kommentare

Ich nehme dich einmal mit auf eine kleine Zeitreise in meine Schulzeit:

Vor meinem inneren Auge sehe ich Herrn Bracht, wie er uns auf Englisch davon erzählt, wie er in seinem Urlaub ins Hotelzimmer kommt, wo seine Frau sich gerade ihre wunderschönen langen Haare föhnt. Ich erinnere mich an das Gefühl von Stolz und Verbundenheit, dass Herr Bracht seine Urlaubserfahrungen mit uns teilt. Auch an die Verwunderung, dass Herr Bracht ab diesem Moment irgendwie ein Mensch ist. – Was war er bloß vorher für mich gewesen?!

Ich sehe auch die schrullige Frau Schmalenströer, die mit uns durch den Wald neben unserer Schule läuft um zusammen zu schauen, wie es um die Gesundheit unserer Bäume bestellt ist. Ich weiche ihr nicht von der Seite, weil es mich anrührt, wie besorgt sie ist und dass sie ihre Sorge mit uns teilt. Bis heute weiß ich, wie die Krone eines kranken Baumes aussieht.

Und da ist auch Herr Hades, unser Pädagogiklehrer, der echte Stimmungen hat und sich nicht verstellt. Manchmal ist er mies drauf, manchmal sehr lustig. Er ist kein Oberlehrer, aber er brennt lichterloh für die Inhalte, die er vermittelt. Er hat uns zu einem Kurstreffen zu sich nach Hause eingeladen, in ein echtes Lehrerhaus, das auch irgendwie nach Lehrer riecht und in dem es jede Menge Saft und keinen Alkohol zu trinken gibt. Vermutlich habe ich mehr über Pädagogik von ihm gelernt als in meinem Pädagogik-Studium.

Mir fallen noch so einige Lehrpersonen und Momente ein. Ein Gefühl für sie und die mit ihnen verbrachte Zeit ist mir geblieben. Und zwar ist es das Gefühl, bedeutsame Momente mit ihnen geteilt zu haben. Keine Nummer, sondern ein Mensch für sie gewesen zu sein. Die Lehrer, die meine Schulzeit positiv geprägt haben, waren Menschen, die authentisch waren und zu denen ich in den Unterrichtsstunden und in den wenigen anderen Momenten, die man überhaupt so teilte, eine Verbindung gespürt habe.

Da waren auch andere Lehrer, die sehr freundlich zu uns waren, an die ich mich aber trotzdem gar nicht gerne erinnere und von denen ich rückblickend auch nicht viel gelernt habe – was nicht am Unterricht an sich lag, sondern daran, dass sie nicht zu mir durchgedrungen sind. Zum Teil fallen mir nicht einmal mehr ihre Namen ein. Es waren Lehrer, die ich nicht einschätzen konnte, weil sie keine Emotionen zeigten. Oder auch Emotionen, die mir unecht erschienen. Sie waren im selben Raum, aber irgendwie nicht in meinem Universum. Ich vermute, ich weiß jetzt, was fehlte: Respekt.

Respekt
Das Wort „Respekt“ kommt aus dem Lateinischen: „Re-spicere“ heißt „zurückblicken“, also „den Blick erwidern“. Um einen Blick erwidern zu können, muss dieser Blick erst einmal da sein. Wenn ein Mensch sich nicht gesehen fühlt, kann er keinen Respekt entwickeln. Klar, er kann vielleicht Angst und Ehrfurcht empfinden und alles tun, was der andere sagt, aber das ist kein Respekt.

Respekt ist nicht gleichzusetzen mit Gehorsam. Respekt ist ein angenehmes Gefühl, das völlig freiwillig ist. Das mit Vertrauen und Wertschätzung zu tun hat und mit Verbindung. Es ist ein Sich-gesehen-fühlen und Dankbar-den-Blick-erwidern. Man sagt „Respekt ist keine Einbahnstraße“, und das stimmt: Es gibt keinen einseitigen Respekt. „Gegenseitiger Respekt“ ist schon alleine vom Ursprung des Wortes her ein „weißer Schimmel“ oder ein „ein lebloser Toter“.

Authentizität
Damit ich mich gesehen fühlen und Respekt entwickeln kann, muss mein Gegenüber auch ein Gesicht haben, in das ich blicken kann – also authentisch sein, ein echter Mensch eben! Das heißt: Gefühle zeigen, Macken haben und Fehler zulassen. Von einem Roboter kann ich mich nicht gesehen fühlen. Der kann noch so klug sein und mich noch so fleißig ansehen: Das ein oder andere bewundern könnte ich schon, aber Respekt ihm gegenüber wird sich nicht einstellen. Authentizität/Menschlichkeit ist eine Voraussetzung dafür, das mir echter Respekt entgegengebracht werden kann.

Kein Wunder, dass (nicht nur bei den Christen) menschliche Anknüpfungspunkte zu Gott geschaffen wurden, damit das mit dem Respekt auch klappen kann. Ich bin zwar nicht religiös, aber ich finde, dass das Christentum das meisterhaft gelöst hat: Durch die Figur des Jesus haben die Gläubigen ein sehr menschliches und wohlwollendes Gesicht, in das sie blicken können, eine echte Bezugsperson, für die sie einen warmen und mit dem Herzen gefühlten Respekt entwickeln können. Durch ihn hat das Christentum so richtig Fahrt aufnehmen und Menschen für sich gewinnen können.

Authentizität und Respekt machen tiefgehendes Lernen möglich
Klar ist: Wenn mich eine Person sieht und wertschätzt, werde ich eher darauf vertrauen, dass das, was diese Person mir sagt, bedeutungsvoll und gut für mich ist. Ich werde es annehmen und wertschätzen können. Ich bin mir sicher, dass du selbst schon einmal erlebt hast, wie dir ein Mensch, zu dem du eine im oben beschriebenen Sinne respektvolle Beziehung hattest, dir etwas beigebracht hat, das du bis heute nicht vergessen hast. So ist Lernen am schönsten – und effektivsten!

Und was ist mit Disziplin?
Disziplin wird unter anderem übersetzt als „Drill“ und erinnert an die militärische Ausbildung. Tatsächlich war aber das lateinische Wort „discipulus“ (Schüler) der Vorgänger des Wortes „disciplina“ (Disziplin). In den romanischen Sprachen heißen die Jünger, die Jesus folgten, immer noch so ähnlich: „disciples“ (englisch und französich), discepoli (italienisch) oder discípulos (spanisch).

Diese Jünger aus der Bibel folgten Jesus nicht, weil er sie zu „Zucht und Ordnung“ anhielt und sie drillte, sondern weil er ihre Herzen berührte und weil sie fühlten, von ihm etwas Bedeutendes lernen zu können. Sie schlossen sich ihm aus freien Stücken an, blieben freiwillig bei ihm, nahmen eifrig auf, was er ihnen beibrachte, und verbreiteten dies sogar noch weit über seinen Tod hinaus. Hätte er sie mit Härte und Unnachgiebigkeit behandelt und sie bei jeder Gelegenheit gemaßregelt und bewertet, wären sie spätestens nach seinem Tod über alle Berge gewesen, und niemand hätte das Bedürfnis gehabt, Jesus und seine Botschaften noch zwei Jahrtausende später in Erinnerung zu behalten.

Der Jesus aus der Bibel war keine knallharte Autoritätsperson. Er war ein Mensch, nahbar und zugewandt. Er richtete nicht über andere und sah auch in den vermeintlich schlimmsten Mitmenschen noch das Gute. Es ist dieser so sympathischen Art der Person Jesus Christus zu verdanken, dass sich der christliche Glaube so lange gehalten und sich über lange Zeit auch sehr weit verbreitet hat.

Im Internet fand ich auch diese Beschreibung: „Disziplin ist ein Sich-Einfügen in die Ordnung einer Gemeinschaft“. Diese Definition macht für mich Sinn. Der Drang, uns einzufügen, ist uns angeboren. Von Natur aus streben Kinder danach, ein Teil der Familie zu sein, angenommen zu werden, dazuzugehören. Sollte das nicht klappen, liegt in der Regel ein Noch-Nicht-Können vor. Unsere Aufgabe ist es, den Kindern dabei zu helfen, ihren Platz in unserer Gemeinschaft zu finden. Das erreichen wir nicht durch „Disziplinierungsmaßnahmen“ und Druck, sondern im liebevollen Kontakt und Dialog mit dem Kind. Klappt das nicht, steckt vermutlich ein Fehler „im System“ – nicht im Kind!; vielleicht bei der Authentizität des Erwachsenen oder beim Re-spekt? Oder bei den unrealistischen Anforderungen?

Fazit:
Hören wir bitte auf, den Kindern die alleinige Schuld für ihr „Fehlverhalten“ zu geben und sie unter Druck zu etwas zu formen, das unseren Vorstellungen entspricht! Was Kinder brauchen sind Bezugspersonen, die echt sind und die eine Verbindung zu ihnen anbieten und eingehen können, die sie dabei begleiten, ihren Platz in unserer Gemeinschaft zu finden. Die ihnen zuhören! Und auch, wenn das bei 31 Kindern in einer Schulklasse schwierig bis unmöglich ist, liegt das Versagen nicht bei den Kindern! Deshalb sollten Kinder dieses Gefühl auch niemals bekommen müssen.

Neulich habe ich einen sehr schönen Spruch gelesen: „Eine gute Erziehung erkennt man nicht am Verhalten des Kindes, sondern an dem der Eltern.“ Ein toller Satz, wie ich finde: Weder Eltern noch Lehrpersonen sollten ihren Erziehungserfolg an der Angepasstheit der Kinder messen, sondern einzig und allein daran, ob sie selbst authentisch sind und eine respektvolle Beziehung mit den Kindern ermöglichen und fördern. Ist die Disziplin der Kinder erzwungen oder wird sie aus freien Stücken und mit Vertrauen und Zuneigung gegeben?

Auch für Nichtchristen bietet sich diese Jahreszeit an, die Verbundenheit zu den uns anvertrauten Kindern noch bewusster zu suchen und zu genießen und ihnen als echte Menschen zu begegnen – nicht als Vollstrecker unseres nicht immer wirklich menschlich gestalteten gesellschaftlichen Systems.

Ich wünsche dir eine möglichst entspannte und glückliche Vorweihnachtszeit!

Deine Vera

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