Auf meiner gestrigen Autofahrt zurück von einer ADHS-Tagung in Bayern hatte ich viel Zeit über ein Phänomen nachzudenken, das, wie ich gerade mal wieder erlebt hatte, zu erheblichem Stress in Gruppen führen kann, und zwar besonders in Gruppen mit Menschen mit AD(H)S, da diese hiervon überdurchschnittlich häufig betroffen sind. Die Rede ist vom Reden – vom sehr viel Reden. Einem Reden, das weder Punkt noch Komma noch Pausen kennt – und das leider nur sehr wenig bis gar keinen Platz lässt für die Personen, die „beredet“ werden.
Wie nennt man dieses Phänomen?
Es gibt sogar einen medizinischen Fachbegriff für diese Vielrednerei: Logorrhoe. Wie ich in verschiedenen Foren im Internet lesen konnte, fühlen sich manche Betroffene angegriffen von diesem Begriff, da er dem medizinischen Begriff „Diarrhoe“ (= Durchfall) ein wenig ähnelt. Während ich verstehe, dass das deutsche Wort „Sprechdurchfall“ verletzend ist und tunlichst vermieden werden sollte, halte ich den Fachbegriff „Logorrhoe“ jedoch für gänzlich neutral. Er kommt aus dem Griechischen und heißt wörtlich übersetzt schlichtweg „Wortfluss“. Um aber niemandem auf den Schlips zu treten, verzichte ich in diesem Text trozdem auf diese Bezeichnung.
Wie zeigt sich der exzessive „Wortfluss“? – Ein Beispiel:
Svenja ist im fünften Schuljahr und hat eine stark ausgeprägte ADHS. Sie schafft es zwar, im Unterricht auf ihrem Platz zu bleiben, plappert aber ständig vor sich hin, sehr zum Leidwesen ihrer Freundin und Sitznachbarin Anna. Wenn sie ein Thema interessiert, reckt sie ihren Arm so hoch es geht in die Luft, schnipst und ruft noch im selben Moment die jeweilige Antwort, Frage oder den Kommentar, den sie im Kopf hat, in die Klasse. Extrem selten schafft sie es, sich zurückzunehmen und zu warten, bis sie an der Reihe ist. Und wenn sie einmal angefangen hat zu reden, kriegt sie niemand mehr gestoppt. Sie kommt dann „von Höcksken auf Stöcksken“ und landet grundsätzlich meilenweit entfernt vom Unterrichtsthema. Ihre Lehrerinnen und Lehrer und auch die anderen Kinder sind völlig genervt von diesem Verhalten.
Auch in den Pausen kommt Anna überhaupt nicht zur Ruhe, da der ständige Redeschwall ihrer Freundin sie verfolgt. Dabei würde Anna selbst so gerne davon berichten, dass sie am Wochenende mit ihren Cousinen im Kino war, oder davon, dass sie befürchtet, ihre Eltern könnten sich trennen. Obwohl sie so viele Stunden am Tag mit ihrer Freundin verbringt, fühlt sie sich alleine. Anna hat schon oft versucht Svenja zu unterbrechen und hat ihr auch schon mehrmals gesagt, dass sie ja selbst gar nicht zu Wort komme, aber länger als ein paar Minuten hat das nicht geholfen.
Svenja im Gegenzug findet ihre Freundin Anna sehr still. Offenbar hat diese nicht so viel zu erzählen und ist dankbar, dass jemand die Unterhaltung für sie übernimmt. Bestimmt tut es Anna gut, so jemand Quirliges an ihrer Seite zu haben. Vielleicht kommt sie dann ja mal mehr aus sich heraus, überlegt Svenja.
Allerdings kann sich Svenja auch daran erinnern, dass ihre Freundin doch mal ein paar Sachen von sich erzählt hat. Sie weiß bloß nicht mehr, was es war. Das passiert ihr ständig: Andere erzählen ihr etwas, und sie ist in Gedanken gar nicht bei der Sache. So sehr sie sich auch bemüht, aufmerksam zuzuhören und sich zu merken, was Anna gesagt hat: Es ist am Ende meistens gelöscht. Da sind einfach so viele andere Gedanken in ihrem Kopf! Das ist dann immer sehr peinlich… Sie könnte Anna zum Beispiel gar nicht fragen, wie es ihrem Hund geht, weil sie sich nicht einmal mehr sicher ist, ob er die OP von neulich überlebt hat. Das hat Anna ihr bestimmt gesagt, aber Svenja weiß es einfach nicht mehr. Wie so vieles, was Anna ihr bestimmt erzählt hat. Besser nicht nachfragen, spürt Anna, denn da lauern Fettnäpfchen…
Ich denke, man kann bei den beiden Mädchen deutlich erkennen, welches Hindernis die Vielrednerei auf der einen Seite und das Nicht-zu-Wort-kommen auf der anderen Seite für ihre Freundschaft darstellt. Es fehlt die Gegenseitigkeit und das gemeinsame Erleben. Beide spüren das, wissen aber nicht, wie sie ihre Situation ändern können. Und man ahnt auch, dass es Gründe dafür gibt, dass Svenja so viel redet.
Wie kommt es zur Vielrednerei bei AD(H)S?
Im Folgenden mutmaße ich mal ein bisschen, woher der häufig extreme „Wortfluss“ bei Menschen mit ADHS kommen könnte.
Geringe Impulskontrolle
Die einfachste Erklärung für den übersteigerten Redefluss ist wohl die geringe Impulskontrolle, die Menschen mit AD(H)S auszeichnet. Nicht nur äußere Reize, sondern auch innere Impulse werden nicht genügend gefiltert und im Zweifelsfall zurückgehalten, so dass es keine Instanz zu geben scheint, die öfter mal sagt: „So, Ruhe jetzt. Du bist gerade nicht dran.“
Reden als Ventil für Begeisterung und andere große Gefühle
Menschen mit ADHS sind in besonderem Maße begeisterungsfähig, was daran liegt, dass ihr Gehirnstoffwechsel heftig positiv auf Neues und Spannendes reagiert und Freude aufgrund des durchlässigeren Reizfilters extrem empfunden wird. Beim passendem Thema gehen dann schon mal die Pferde mit ihnen durch. Aber auch ungefilterte Wut über empfundene Ungerechtigkeiten und andere Gefühle können so groß sein, dass sie über einen schier endlosen Wortfluss herausströmen.
Wunsch nach Beachtung und Anerkennung
Personen mit AD(H)S haben erwiesenermaßen überdurchschnittlich häufig ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wie wichtig für viele das Gefühl ist gehört und verstanden zu werden. Einige setzen sich daher gekonnt in Szene und blenden ihr „Publikum“ durch Anekdoten über Gott und die Welt und gerne auch über sich selbst, andere wiederum versprechen sich Zuwendung von ihren Mitmenschen durch den ständigen Druck auf die Tränendrüse und ausführliche Berichte über ihr Leid. Das ist natürlich auch situationsabhängig. Und menschlich! Ich verurteile diese unbewussten Strategien, die ich ja sogar von mir selbst kenne, nicht, sondern versuche hier nur, sie zu beleuchten und zu verstehen.
Ablenkung
Aufgrund des durchlässigen Reizfilters ist das Gehirn von Menschen mit AD(H)S mit unglaublich vielen Assoziationen und Gedanken beschäftigt, während sie jemand anderem versuchen zuzuhören. Auch die Umgebung bietet immer wieder Ablenkungen, die nur schwer ausgeblendet werden können. Statt einfach die Informationen aufzunehmen und dem Gespräch zu folgen, entstehen unaufhörlich neue Ideen und Gedanken, die häufig sehr viel aufregender und Dopamin-versprechender sind als das Gehörte. Um diese nicht zu vergessen, werden diese schon mal direkt mitgeteilt, häufig ohne Rücksicht darauf oder auch nur eine Ahnung davon, dass die andere Person gerade etwas für sie sehr Bedeutendes berichtet oder die Gruppe gerade ein komplett anderes Thema diksutiert.
Langeweile
Das AD(H)S-Gehirn folgt diesen spannenderen Ideen und Gedanken instinktiv, denn auf diese Weise sichert es sich seine Arbeitsfähigkeit. Besonders schwierig wird das Zuhören, wenn das Gegenüber langsam redet oder/und das Thema nicht von persönlichem Interesse ist. Wo jemand ohne ADHS aus Höflichkeit brav zu Ende lauschen würde, bringen Personen mit ADHS sich allzu oft in peinlichste Situationen, denn sie können ihre Aufmerksamkeit nicht oder nur sehr unzulänglich steuern: So träumen sie weg oder schlafen sogar ein, sie unterbrechen ihr Gegenüber und können oft nicht auf das Gesagte reagieren, weil es einfach nicht erinnert wird.
Zuhören zu müssen ist für Menschen mit AD(H)S also oft nicht nur wahnsinnig anstrengend, sondern birgt immer auch das Risiko, als schlechter Zuhörer und womöglich sogar als schlechter Mensch entlarvt zu werden.
Flucht
Die oben beschriebenen Probleme mit dem Zuhören können dazu führen, dass manche Menschen mit AD(H)S viel lieber selber reden, sich also quasi unbewusst ins Quasseln flüchten:
„Wenn ich selber rede, kann ich die Situation bestimmen. Mein Gehirn muss dann keine unerträglichen Gespräche und schlimmste Langeweile über sich ergehen lassen. Ich muss dann nicht erleben, wie es sich einfach verabschiedet oder mich auf Gedankenreise schickt. Es muss sich auch nicht merken, was andere gesagt haben. Ich muss nicht adäquat auf andere reagieren, wenn ich sie gar nicht erst zu Wort kommen lasse. Niemand merkt dann, wie schwer mir das Zuhören fällt. Es entstehen Gesprächssituationen, in den ich brillieren kann und die mich nicht stressen. Die mir sogar Spaß machen!“
Selbstbild durch Gewohnheit:
Hat man erst einmal die Erfahrung gemacht, wie großartig sich das Monologführen im Rampenlicht anfühlt, wird man womöglich immer wieder instinktiv dazu tendieren, das Gespräch einfach selbst in die Hand zu nehmen. Da viele Menschen mit AD(H)S sehr eloquent sind, kommen sie oft sogar ganz gut an. Es kann sich dann ein Selbstbild entwickeln, das sich verselbstständigt: „Ich bin eine witzige und gesprächige Person. Die Menschen lieben mich, weil ich so spritzig und originell daher schwatze.“
Aus dieser Rolle auszubrechen ist bestimmt äußerst schwierig und kann mit großen Einbußen im Selbstwert verbunden sein. Ist ja verständlich, vor allem wenn man bedenkt, wie die Vielrednerei vermutlich zustande gekommen ist.
Und nun?
Wie so oft halte ich es für sinnvoll und hilfreich, nach dem „Warum?“ zu fragen, wenn es um die Verhaltensweisen anderer Menschen geht – oder um unsere eigenen! So haben wir die Chance, „nerviges“ Verhalten zu analysieren und zu verstehen. Und somit die Möglichkeit, gnädiger auf uns und auf andere zu blicken. Vielleicht entstehen so auch Ideen für den Umgang mit diesen Verhaltensweisen. Sogar Lösungsansätze!
Was meinst du: Was würde sich wohl für Svenja und Anna ändern, wenn sie ihr Dilemma bloß verstehen könnten?
Liebe Vera,
aus demselben Impuls heraus hatte ich gerade eine Antwort hier eingehämmert (auf die ich eben noch so stolz war) und… mich ablenken lassen und schon isse weg.
Typisch ADHS können wir nicht zweimal den gleichen Satz sagen, was ebenso das Schreiben betrifft, deshalb werde ich an dieser Stelle aufgeben und mich meinem schlechten Gewissen widmen.
Da wir uns auf o.g. Veranstaltung persönlich kennen gelernt haben, las ich mit Spannung deinen Text und finde mich natürlich darin wieder. Der Impuls zu antworten resultierte – soweit ich mich an die letzten 10min erinnern kann – daraus, dass ich in der Veröffentlichung noch eine weitere Stufe des Stressabbaus sehe.
Mit meinen Gedanken und daraus folgenden ungesteuerten Monologen bin ich für meine Umgebung sehr anstrengend, deshalb schreibe ich sie – wenn rechtzeitig erkannt – als Notfallmaßnahme besser auf. Natürlich vergesse ich dann das Speichern oder ich lese es eh niemals wieder (wie gerade eben). Aber mit einer Veröffentlichung ist das anders, sie bremst etwas, weil man ja ev. noch recherchieren muss, der fertige Text aber ist nachlesbar, korrigierbar und eröffnet dem Leser, freiwillig teilzuhaben. Das ist dir gut gelungen und ich nehme mir ein Beispiel!
Apropos recherchieren, geht dir das auch so, dass du nur mal schnell eine Rechtschreibung googlen willst und schon bis du nach 4h Internet auf einer Seite für Fußtransplantationen an Rindern in Indien?
Sorry, ist doch wieder länger geworden und – echt krass – völlig anders. Lass dich herzlich krass aus dem Thüringer Gebirge grüßen, es war schön, mit dir zu schwatzen und ich würde mich freuen, wenn wir in Kontakt bleiben.
Ev
Liebe Ev,
wie schön von dir zu lesen! Und auch ich finde mich mal wieder in deinen Ausführungen und Erfahrungen sehr deutlich wieder.
Tatsächlich ist es so, wie du sagst, dass das Schreiben auch ein Verarbeitungsmechanismus ist und dem Stressabbau dient. Eine Maßnahme, die mich davor bewahrt, meine Umwelt mit meinem Gedanken- und Wortfluss zu überfordern. Denn wenn die Gefühle und der Mitteilungsdrang groß sind, kann auch ich sehr anstrengend sein. Das mit dem Veröffentlichen meiner Schreibereien ist auch für mich neu, fühlt sich aber gut an, weil ich, wie du vermutet hast, gezwungen bin noch einmal genauer und auch diplomatischer nachzudenken, und weil ich mich dann wirklich mitteile und auch Reaktionen von lieben Menschen wie dir erhalte. Diejenigen, die das Thema und meine Ideen dazu nicht interessieren, müssen es nicht lesen, und die, die etwas damit anfangen können, helfen mir mit ihren Gedanken dazu unglaublich weiter. Viele schreiben, rufen oder sprechen mich auf die Beitrage an, und es sind schon sehr gewinnbringende Gespräche daraus entstanden.
Und jaaaaaa, das Googeln führt mich regelmäßig in entlegenste Gefilde – und oft ist es dann Stunden später…. Neugier, Zeitblindheit und Aufschieberitis lassen grüßen!
Ich freue mich auch, dass du die Kommentarfunktion genutzt hast, weil so auch andere Leute, die das Thema offenbar interessiert, an unseren Gedanken teilhaben und vielleicht den ein oder anderen Impuls mitnehmen können. Schön, dass wir uns in Bad Kissingen kennengelernt haben. Es waren sehr gute Gespräche, die ich absolut nicht anstrengend fand. 🙂
Ganz, ganz herzliche Grüße aus NRW!
Vera