Kevin hatte meiner Ansicht nach ziemliches Glück, über Weihnachten alleine zu Hause zu sein und sich gezwungen zu fühlen, das große McAllister-Anwesen vor zwei skrupellosen Einbrechern zu beschützen. So konnte er als mutiger, einfallsreicher, ja sogar heldenhafter kleiner Junge in die Filmgeschichte eingehen. Hast du dich mal gefragt, was passiert wäre, wenn er stattdessen wie geplant mit seiner Familie nach Frankreich geflogen wäre, um dort ein harmonisches Fest mit der Großfamilie zu feiern? Das wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Heldengeschichte geworden…
Ich denke, viele Eltern von Kindern mit ADHS können sich gut vorstellen, dass diese in der Extremsituation eines Einbruchs zumindest nicht wesentlich schlechter zurechtkämen als beim Versuch, harmonische Weihnachtstage in der Familie zu verbringen. Aber warum ist das so?
Was macht Weihnachten für Menschen mit ADHS so schwierig?
Nun, Weihnachten setzt Chaos an die Stelle einiger Leitplanken des täglichen Alltags: Da wäre der zerbombte Schlafrhythmus, der über die Feiertage zustande kommen kann, die veränderte Tagesstruktur (z.B. Brunchen statt Frühstück und Mittagessen, Verwandtenbesuche etc.), ungewohntes Essen, unlimitierter Zugang zu Süßkram durch den omnipräsenten Weihnachtsteller, Reizüberflutung durch Ortswechsel und Verwandten-Overkill, zu viele soziale Kontakte auf engem Raum, weniger Rückzugsmöglichkeiten, erhöhte Unfall- und Zerstörungsgefahr durch Weihnachtsbaum, Deko und Kerzen, stundenlange Kirchenbesuche in überfüllten Gotteshäusern, womöglich in ungewohnter und weniger bequemer Kleidung, sozialer Druck, da trotz der wirklich herausfordernden Umstände besonders gutes Verhalten, strahlende Gesichter und vor allem Harmonie und Dankbarkeit gefordert sind….
Erschwerend hinzu kommt die Aufregung wegen der Geschenke, die sich in den Monaten, Wochen, Tagen und Minuten vor der Bescherung ins Unermessliche steigern konnte. Es ist eine Vorfreude und Neugier, die bei ADHS grenzenlos sein kann und häufig mit einer sehr genauen Vorstellung davon verbunden ist, wie bombastisch das Gefühl sein muss, wenn die Geschenke endlich geöffnet werden. In ungeduldiger Erwartung des großen Tages kommt es oft schon Tage vorher zu Schlafschwierigkeiten, Quasselanfällen und extremer Hibbeligkeit.
Absehbar, dass die Realität den überhöhten Erwartungen oft nicht Stand hält, wodurch das Interesse an den Geschenken schneller abebbt, als die Vorfreude es hätte vermuten lassen. Oder dass an dem Geschenk oder den Geschenken doch etwas ist, das den Vorstellungen nicht exakt entspricht. Und da die Enttäuschung genauso ungefiltert nach außen drängt wie die Vorfreude, bangen viele Eltern schon Wochen vorher, ob und wann die Bombe am Heiligen Abend platzen wird. Manche Eltern sind dann entsetzt, wie undankbar und scheinbar materialistisch ihr Kind ist.
Dabei geht es dem Kind in diesem Moment gar nicht um das Geschenk an sich, sondern um das erlebte Gefühl, mit dem es selbst nicht umzugehen weiß. Die Achterbahn der Gefühle von Kindern (vor allem denen mit ADHS) am Heiligen Abend ist halsbrecherisch! Sich als Eltern oder Verwandte von diesen Gefühlen angegriffen zu fühlen oder anzumerken, dass das Kind die weihnachtliche Harmonie zerstört, kann die Situation nur zur Eskalation bringen.
Nehmen wir aber mal an, die Weihnachtsfreude ist auch nach der Bescherung noch ungebrochen – dann nähert sich schon die nächste Bedrohung für die festliche Stimmung: Das Spiel muss unterbrochen werden, um am ausgiebigen Weihnachtsmahl teilzunehmen, in dessen Vorbereitung unglaublich viel Zeit und Mühe geflossen sind und das deshalb ganz einfach perfekt und harmonisch werden muss. Spoiler-Alert: Kann schief gehen…
Familientradition neu denken?
In den meisten Familien mit ADHS gibt es bestimmte Situationen, die allweihnachtlich eskalieren. Vielleicht rennen wir ja dieses Jahr nicht ins offene Messer. Vielleicht erkennen wir ja, dass es doch gar nicht so schlimm ist, wenn es Weihnachten unbedingt die Jogginghose sein muss. Dass leise bespielbares Spielzeug oder Malsachen in der Kirche total Sinn machen könnten. Dass ein kurzes Krippenspiel einer langen Weihnachtsmesse vorzuziehen sein dürfte. Oder dass leicht zerbrechliche Deko zu einem Stimmungskiller werden kann. Auch, dass langes Sitzen am Esstisch für den ein oder anderen eine Tortur sein kann und dass Rückzugsmöglichkeiten bei Familienfeiern ein Muss sind. Dass wir besonders Kindern mit ADHS und somit auch uns wirklich keinen Gefallen tun, wenn wir nach dem ein oder anderen Glas Wein länger ausschlafen und deren Langeweile riskieren. Dass Bewegungsphasen am besten ganz konkret eingeplant werden….
Bei jeder Familie sehen die Erkenntnisse unterschiedlich aus. Aber sie könnten die entscheidenden Drehschräubchen sein, die zu einer glücklicheren Weihnachtszeit führen. Welche Stolpersteine würdet ihr aus dem Weg räumen?
Menschlichkeit schlägt Perfektion
Am allerwichtigsten finde ich: Weihnachten kann auch dann toll sein, wenn zwischendurch mal die Wogen hochschlagen und die Fetzen fliegen. Wutanfälle und Konflikte müssen auch an Weihnachten kein Weltuntergang sein. Sie zeugen nur davon, dass die Situation für den ein oder anderen schwierig ist. Ohne den Druck der perfekten Harmonie atmet und genießt es sich gleich viel besser.
Auf ein menschlich unperfektes Weihnachtsfest und viel Humor – auch in Extremsituationen! So schlimm wie im Haus der McAllisters wird die Verwüstung bei euch vermutlich nicht werden.
Merry Christmas!!!!!!
Deine Vera

















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