Die Jagd nach dem Dopamin

Jan 7, 2024 | 0 Kommentare

Back to the roots

Der amerikanische Wissenschaftler Thom Hartmann verglich vor vielen Jahren (2004) in seinem Buch „ADHS als Chance begreifen (Nennen wir es das Edison-Gen)“ Menschen mit ADHS mit den Jägern und Sammlern, die in einer Zeit weit vor dem modernen Menschen lebten: Diese „Hunter“, wie Hartmann sie nennt, scannten permanent ihre Umgebung nach Gefahren oder Beute, waren immer auf dem Sprung, handelten spontan und gingen Risiken ein. Sie lebten auf eine bemerkenswerte Weise im Hier und Jetzt, also, in IHREM Hier und Jetzt, versteht sich ;). Ihr Hyperfokus erwies sich bei der Jagd als extrem nützlich.

Die Lebenswelt unserer Vorfahren änderte sich schließlich, man wurde sesshaft, begann Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Andere Fähigkeiten erwiesen sich als unverzichtbar und vererbten sich weiter: Vorausschauendes Handeln, Langfristiges Planen, Geduld, Disziplin, die Arbeit im Team…  Das Erbgut, so Hartmann, das für die ,„Hunter“-Fähigkeiten zuständig war, sei trotzdem heute noch sozusagen „im Umlauf“. Die einen haben also quasi mehr vom „Hunter“, die anderen mehr vom „Farmer“. Auf diese Weise erklärt der Autor die Unterschiede zwischen Menschen mit und denen ohne ADHS .

Ob diese Theorie wissenschaftlich haltbar ist, kann ich nicht beurteilen. Was ich daran jedoch mag, ist, dass beiden Gruppen, „Huntern“ und „Farmern“ gleichermaßen, wunderbare Fähgikeiten zugeschrieben werden, und dass deutlich wird, dass die Lebensbedingungen einen riesigen Einfluss darauf haben, wie gut wir mit unserer erblichen Grundausstattung, die für sich genommen niemals falsch ist, zurechtkommen. Menschen mit ADHS sind Thom Hartmann zufolge also nicht krank oder gestört, sondern funktionieren in der passenden Umgebung perfekt. Sie bringen auch für die heutige Gesellschaft großartige Fähigkeiten mit.

 

Als Jäger in einer Farmer-Welt
Als Mensch mit vielen „Hunter-“ und weniger „Farmer-“ Genen/Qualitäten in unserer Gesellschaft zu bestehen, ist trotzdem nicht leicht. Besonders nicht in jungen Jahren, in denen sehr viel Anpassung, Routine, Planung, Geduld und Disziplin gefordert werden und wenig Selbstbestimmung möglich ist. Qualitäten wie Impulivität, Risikobereitschaft, die permanente Wahrnehmung der gesamten Umgebung und die Suche nach dem Nervenkitzel machen das Funktionieren besonders in unserem Schulsystem oftmals eher schwierig. Der „Hunter“-Typ kann naturgemäß wenig Motivation für Routine, Fleißarbeit oder langfristige, am Ende noch in Kooperation mit komplett anders arbeitenden Menschen zu erreichende Ziele aufbringen. Es fehlt ihm der Antrieb, der Kick, die Stimulation, die er benötigt, um zu seiner Höchstform aufzulaufen.

 

Schnelle Beute, großes Glück?
Dieser Kick, der dem modernen „Hunter“ fehlt, ist in den letzten Jahrzehnten überall erhältlich: In Videospielen, den sozialen Medien, spannenden Filmen und Serien, durch die ständige Verfügbarkeit immer neuer käuflicher Waren, Drogen und Freizeitaktivitäten, die jede Menge Nervenkitzel versprechen. Das Leben ist schneller geworden, rasend schnell. Langeweile kommt selten vor…. Den schnellen Dopamin-Kick können wir uns jederzeit holen. Wir sind nicht mehr gezwungen, zwischen dem „Jagen“ auch mal zur Ruhe zu kommen. Wir können unser Gehirn unsere komplette Freizeit lang mit Dopamin versorgen.

 

Das Problem mit dem Dauerkick

Was paradiesisch klingt, hat einen Haken:  Denn nach dem Jagen ist vor dem Jagen! Sobald die Beute erlegt ist, sinkt der Dopaminspiegel wieder. Früher lief dem „Hunter“ jedoch nicht ständig Beute vor der Nase herum, und auch die körperliche Erschöpfung nach der Jagd zwang ihn immer wieder zu Ruhepausen, also längeren parasympathischen „Rest and Digest“- Phasen, die der Körper dringend für den Stoffwechsel benötigt. Auch zum Lernen und Verknüpfen von Zusammenhängen brauchen wir den parasympathischen Zustand. Und zwar mehrmals am Tag, nicht nur in der Nacht!

Ob mit oder ohne ADHS: In den letzten Jahren hat sich das Verhalten der meisten von uns enorm gewandelt: Jede freie Minute schauen wir auf unsere Smartphones. Statt Pausen einzulegen, sehen wir fern oder spielen Computerspiele. Oder verlieren uns in den sozialen Medien oder im Online-Shopping. Alles Aktivitäten, die bei uns Dopamin freisetzen und verhindern, dass wir in den parasympathischen Ruhemodus gelangen. Gerne auch in Kombination mit süßen oder fettigen Speisen, die unser Belohnungszentrum zusätzlich anregen. Kaum halten wir es aus, uns einfach „nur“ mit einem Buch zu beschäftigen, eine unaufgeregte Unterhaltung zu führen oder einfach mal den Gedanken nachzuhängen und völlig entspannt in uns zu gehen. Alles muss witzig oder spannend, schockierend oder skandalös sein, sonst erweckt es kaum noch unser Interesse.

Das ist für jeden von uns auf Dauer schädlich, denn wir „verwöhnen“ uns so dermaßen mit Dopamin, dass wir in weniger stimulierenden Situationen nicht mehr in der Lage sind, uns länger zu konzentrieren. Wir sind so daran gewöhnt, beim sogenannten Multitasking von einer Aktivität zur nächsten und wieder zurück zu switchen und ständig durch irgendein „Pling“ oder Vibrieren aus unseren Aktivitäten gerissen zu werden, dass es uns immer schwerer fällt, mal eine Mahlzeit, ein Meeting, einen Film lang nicht aufs Handy zu schauen. Die Nachrichten darauf holen uns immer wieder aus dem Hier und Jetzt und schicken uns an ganz andere Orte, ins Gestern oder ins Morgen, lassen uns auflachen, obwohl die uns in der Realität umgebende Situation eher ernst ist, oder regen uns fürchterlich auf, obwohl wir gerade bei einem romantischen Candlelight-Dinner sitzen.

 

Dopamin, Aufmerksamkeit und Sucht

Tragisch: Wenn ein riesiges Dopamin-stimulierendes Angebot auf hungrige ADHS-Gehirne trifft, kommt es vermehrt zu Süchten aller Art: Kaufsucht, Substanzmissbrauch, Essstörungen, Videospielsucht, Social Media-Sucht und einige mehr. Pausen von der „Jagd“ gibt es kaum. Das Suchtrisiko von Menschen mit ADHS ist nicht ohne Grund immens.

Für die meisten von uns gilt: Weniger stimulierende Situationen werden immer weniger ertragen. Die Aufmerksamkeit kann in Schule und Beruf immer weniger gehalten werden, da weder Inhalte noch Darreichungsform uns so stimulieren können wie kurzweilige Tiktok- Videos und andere Inhalte, die gekonnt darauf abzielen, uns in ihren Bann zu ziehen und uns nicht mehr loszulassen. Einen Film oder gar eine Serie aus den 80ern zu schauen ist für viele heutige Gehirne eine Zumutung, denn häufig sind diese erstaunlich gemächlich und langatmig. War mal ganz normal für uns und sogar megaspannend!

 

Zurück zur mehr Aufmerksamkeit

Digital Detox klingt nicht schön und für viele von uns – auch für mich – ein wenig übertrieben. Da ich aber merke, wie heftig mein Gehirn auf Whatsapp, Instagram & Co. reagiert, wie viel Zeit ich darauf verwende, wenn ich nicht aufpasse, versuche ich immer wieder Wege zu finden, meine Aufmerksamkeit und mein Hier und Jetzt zu schützen. Diese Medien haben eindeutig nicht zu meiner ADHS geführt – die war schon immer ein Teil von mir, lange bevor ich mein erstes Handy in der Hand hielt. Ich merke jedoch, dass ich wirklich besonders anfällig für ihren Sog bin und dass sie streckenweise einen Stellenwert in meinem Alltag einnehmen, den ich ihnen absolut nicht geben will.

Was kann ich also tun, um meine Aufmerksamkeit und mein Erleben des jeweiligen Momentes zu schützen? Da gibt es viele Ansätze, und für jeden wird ein anderer sinnvoll sein. Es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen darüber nachzudenken. Ich persönlich begrenze meine Medienzeit, stelle Podcasts und Sprachnachrichten nicht mehr auf doppelte Geschwindigkeit, nehme bewusst mein Handy nicht mit, wenn es nicht wegen der Kinder nötig ist, reduziere längere Whatsapp-Unterhaltungen und entschleunige insgesamt meinen Alltag. Ich beginne, der Langsamkeit wieder mehr abzugewinnen, sie zu genießen und Pausen nicht als eitles Nichtstun zu empfinden, sondern als biologische Notwendigkeit, die mir und uns allen gut tut.

Wie schützt du deine Aufmerksamkeit?


Übrigens ganz herzlichen Glückwunsch an dich und deine Aufmerksamkeit, wenn du diese letzten Zeilen noch liest! Und ganz liebe Grüße!

Deine Vera

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