Mittlerweile ist bei den meisten von uns angekommen: Positives Feedback motiviert, Strafen lösen negative Gefühle aus und können mitunter das Lernen und den Spaß daran hemmen. Deshalb arbeiten viele Eltern und Pädagog:innen mit verschiedensten Belohnungssystemen: Es gibt Punktepläne in verschiedensten Ausführungen, Belohnungsgläser, Sonnen- und Wolkentagebücher und jede Menge andere, zum Teil sehr kreative und optisch ansprechende Verstärkersysteme.
Gerade in ADHS- und Erziehungs-Ratgebern werden solche Verstärkerpläne immer wieder als pädagogische Heilsbringer bei jeglichem Fehlverhalten propagiert. Dummerweise geht gerade bei Kindern mit AD(H)S die Arbeit mit Verstärkerplänen oft „nach hinten los“.
Mal ein kleines Beispiel aus dem Hause Müller:
Frau Müller war jüngst bei der Erziehungsberatung und hat sich daraufhin gleich ein Säckchen Murmeln und ein schönes Glas im 1-Euro-Shop gekauft. Ihr 8-jähriger Sohn Jannik, der immer ein Mordstheater beim Zähneputzen macht, soll jetzt für jedes protestfreie und selbstständig mit der Sanduhr durchgeführte Zähneputzen eine Murmel bekommen, die dann ins Glas gelegt wird. Ist das Glas voll, wird Jannik zusammen mit seinem Vater ins Kino gehen, denn laut der kompetent wirkenden Expertin ist es „pädagogisch natürlich viel sinnvoller, mit gemeinsam verbrachter Zeit zu belohnen als mit materiellen Dingen wie Geld oder Süßigkeiten“. Frau Müller hat extra ein kleines Glas und große Murmeln genommen, damit Jannik das Ziel in 7 Tagen erreichen kann.
Ihr Plan scheint zunächst aufzugehen: Jannik durchschaut offenbar nicht, dass er durch das Verstärkersystem erpresst wird und die „Qualitätszeit“ mit seinem Vater nicht bedingungslos ist. Die Freude über seine erste Belohnungsmurmel ist riesengroß. Er geht vor Vorfreude förmlich durch die Decke! Jannik spürt, dass sein positives Verhalten und die damit verdiente Murmel ihn dem Kinobesuch mit seinem Vater näher gebracht hat. Er malt sich aus, wie cool das wird, wie viel Spaß die beiden zusammen haben werden, wie viel Popcorn sie dabei futtern werden. Welches Getränk wird er sich wohl bestellen? Sprite? Oder doch lieber Fanta?
Der Junge geht in seinen Fantasien schwelgend zum Glas, legt die Murmel hinein und erschrickt, wie weit dieses Ziel noch entfernt ist und wie viel Positivverhalten er dafür noch an den Tag legen muss. Er weiß nämlich, dass er das Zähneputzen sicherlich manchmal vergessen wird, dass er sich nicht immer verkneifen können wird zu maulen, wenn er daran erinnert wird, und dass er beim Zähneputzen durch alles Mögliche abgelenkt werden und den Vorgang nicht immer selbstständig bis zum Ende durchführen können wird.
Durch seine ADHS und die damit verbundene Gefühlsstärke ist seine Frustrationstoleranz gering, d.h. seine Bedürfnisse aufzuschieben fällt ihm grundsätzlich besonders schwer. Ungeduld ist daher quasi sein zweiter Vorname. Mann, wird das schwer sein, diese Situation zwischen Vorfreude, Ungeduld und der Angst, das positive Verhalten nicht im richtigen Moment an den Tag legen zu können, auszuhalten!
Nach den ersten zwei erfolgreichen Zahnputzsituationen kommt es leider zu einem Wutanfall, weil Jannik gerade so tief in sein Lego abgetaucht ist, dass er absolut keinen Kopf fürs Zähneputzen hat und die Zahnbürste mit Karacho in die Dusche pfeffert. Die Wut darüber, dass er an diesem Tag also keine Murmel bekommen wird, führt zu einem zweiten Vulkanausbruch, bei dem er auf der Zahnpastatube herumtrampelt und diese zum Zerplatzen bringt. Sein Vater ist so schockiert über dieses Verhalten, dass es aus ihm herausbricht: „Mit so einem Kind geh ich wohl nicht ins Kino! Wenn das so weiter geht, kannst du dir unseren Plan abschminken!“ Das wiederum tut Jannik extrem weh, sogar körperlich: Er spürt, wie sich ein stechender Schmerz in seine Brust bohrt, einer von der ganz tödlichen Sorte, und reagiert mit der einzigen ihm gerade verfügbaren Retourkutsche: „Ich scheiß auf die Murmeln und ich scheiß aufs Kino – und ich scheiß auch auf dich!“
Nach weiteren zwei erfolglosen Tagen „Murmelglas“ bricht Frau Müller das Vorhaben ab. Die Erziehungsberaterin schiebt es auf die unglückliche Durchführung. Frau Müller und Herr Müller fühlen sich unfähig und kritisieren sich in ihrem Frust gegenseitig für verschiedene Aussagen und erzieherisches Fehlverhalten.
Emotionale Überforderung
Tatsächlich unterschätzen wir Erwachsenen, wie viele Gefühle eine solche Diszipinierungs-“hilfe“ beim Kind auslösen und wie viel Energie sie das Kind kosten kann. Menschen mit AD(H)S haben aufgrund ihres sehr durchlässigen Reizfilters sehr starke, ungefilterte Gefühle, die oft zu sehr starken und ungefilterten Reaktionen führen. Ein Belohnungssystem überfordert deshalb gerade diese Kinder häufig emotional. Besonders, wenn das positive Verhalten mal nicht erbracht werden kann. Der Frust darüber, dass die Endbelohnung in noch weitere Ferne rückt, tut weh und ist durchaus eine schlimme Strafe. – Mmmh, und wollte man Strafen nicht mit diesem System vermeiden? Oft geben Kinder mit AD(H)S aus Frust ihre Bemühungen auf, lehnen sich gegen dieses System auf oder verwickeln ihre Eltern in endlose Diskussionen, z.B. über die jeweilige Murmel, so dass das Vorhaben am Ende nur zusätzliche Konflikte hervorbringt und abgebrochen wird. Die Eltern-Kind-Beziehung hat dann gelitten, ohne dass sich das als problematisch empfundene Verhalten des Kindes geändert hätte.Warum?
Perspektivwechsel, nur mal so zur Veranschaulichung
Ich stelle mir vor, ich hätte einen Partner, der mir sagt: „Ich halte hier mal schriftlich fest, ob du auch jeden Tag die Zahnpastatube zudrehst, und wenn du genügend Smileys bis nächste Woche angesammelt hast, machen wir einen tollen Wochenendausflug nach Paris.“ Die Message, die bei mir ankäme, wäre nicht: „Oh, dem ist es aber wichtig, dass die Zahnpasta nicht austrocknet. Jetzt werde ich mich aber bemühen und das mein Leben lang auf dem Schirm haben.“ und auch nicht: „Wie cool, dass ich vielleicht mit ihm nach Paris fahre!“, sondern: „Der will nur mit mir nach Paris fahren, weil er das mit der Zahnpasta so wichtig findet. Er weiß, wie wichtig mir die gemeinsam verbrachte Zeit mit ihm ist, und damit erpresst er mich. Ihm ist es nicht wichtig, mit mir nach Paris zu fahren. Es geht ihm um die Zahnpasta.“ Ich, die ich in einer strategisch günstigeren Position bin als der arme Jannik, würde meine Sachen packen und dem Herrn ein schönes Leben wünschen. Zuneigung und gemeinsame Pläne sollten bedingungslos sein. Niemand sollte erfahren und lernen, dass er/sie nur Anerkennung und Gemeinschaft verdient, wenn er/sie genau so funktioniert, wie es andere verlangen. Und dass man verdienterweise alleine ist, wenn das erwünschte Verhalten nicht gelingen will.
Konkurrenzkämpfe vorprogrammiert
Benutzt man Verstärkerpläne mit mehreren Geschwisterkindern, kommt noch die Konkurrenzsituation hinzu, die das Ganze noch zerstörerischer macht. In einer Schulklasse ist das ebenso: Schüler, denen es ohnehin leicht fällt, ihr Verhalten zu kontrollieren und zu optimieren, werden bei solchen Plänen glänzen können, aber diejenigen, denen es einfach aufgrund ihrer „Werkseinstellung“ sehr viel schwerer fällt, ihr eigenes Verhalten zu modifizieren, werden immer wieder erleben, wie sie keine Belohnung bekommen, und darin bestärkt werden, dass sie offenbar schlechtere Menschen sind und weniger Anerkennung und Liebe verdient haben.
Die Reaktion kann dann unterschiedlich ausfallen: Entweder internalisiert das Kind stillschweigend, dass es einfach ein Loser ist. Oder es reagiert mit Rebellion: Bevor es vor sich selbst und anderen zugeben muss, dass es trotz seines Bemühens nicht schafft, den Anforderungen zu entsprechen, pfeift es auf die ganze Aktion und verhält sich von nun an absichtlich nicht regelkonform. Beides keine Optionen, die zur Verwendung von Verstärkerplänen einladen.
Mein Fazit
Die berühmte italienische Pädagogin Maria Montessori befand schon Anfang des letzten Jahrhunderts: „Preise und Strafen sind Anregungen zu unnatürlicher oder erzwungener Bemühung, und deshalb können wir in diesem Zusammenhang nicht von der natürlichen Entwicklung des Kindes sprechen.“ Ich finde, sie hat völlig Recht. Wir werden weder mit positiver noch mit negativer Konditionierung langfristige Lernerfolge oder Verhaltensanpassungen erzielen, denn was direkten oder als Belohnung getarnten Strafen fehlt, ist eine echte Wertschätzung der Person, Verständnis und Einsicht sowie das Entwickeln von Strategien, die es dem Kind ermöglichen, sein Verhalten selbstständig zu beeinflussen.
Wieder so wundervoll und anschaulich beschrieben.
Ja, genau so ist es.
Vielen Dank, liebe Vera 🙏
Danke dir, lieber Thomas! 🙂