Montagnachmittag im Hause Meier: Ein Streit zwischen den Zwillingen Tim und Jan (7 Jahre, ADHS) ist dabei übel zu eskalieren. Solche Zoffs gehen bei den beiden immer mal wieder blutig aus. Mutter Meier springt geistesgegenwärtig dazwischen und flötet: „Möchte jemand von euch einen Mango-Joghurt?“ Die beiden lieben Mango-Joghurt! Schon sind sie in der Küche und futtern, was das Zeug hält. Irgendwann hören sie sogar auf, sich unter dem Tisch gegen die Schienbeine zu treten, unterhalten sich über ihre Lieblingsserie. Puh, Glück gehabt! Ruckzuck noch Rührei zubereiten und Brote machen, damit es nicht so schnell wieder eskaliert.
Noch vor ein paar Wochen war es ein Ding der Unmöglichkeit, die beiden Streithähne auseinanderzubekommen, wenn sie gerade dabei waren, sich ineinander zu verbeißen. Denn da wusste Mutter Meier noch nicht, wie reizbar hungrige ADHS-Kinder sein können. Natürlich ist nicht jeder Streit zwischen den beiden so leicht in den Griff zu bekommen, und nicht immer ist Hunger der bedeutende Treiber. Aber so eine Stunde vor dem Mittag- oder Abendessen ist es doch sehr wahrscheinlich, dass ein Snack wahre Wunder wirken kann.
Klar, wirst du vielleicht sagen, jeder wird doch wie in dieser Twix-Werbung zur „Diva“, wenn er Hunger hat. – Jjjjjein, würde ich sagen. Ja, Hunger kann jeden reizbarer machen, und nein, es geht bei gleichzeitg vorhandener AD(H)S um eine völlig andere Dimension von Reizbarkeit.
Da spielen nämlich einige Faktoren zusammen:
Die Dopamin-Unterversorgung
Gehirnen mit ADHS mangelt es unter anderem am Botenstoff Dopamin, was das soziale Miteinander und das Ausführen von Tätigkeiten stark erschweren kann. Stark zucker- oder fetthaltige Getränke und Speisen kicken den Dopaminspiegel, so dass das Bedürfnis nach diesen Lebensmittel sehr viel mehr ist als ein simples Bedürfnis, mal wieder etwas im Bauch zu haben.
In der Selbsthilfegruppe erzählen viele Eltern davon, wie ihre von ADHS betroffenen Kinder (sehr viel öfter als ihre nicht betroffenen Geschwister) Süßigkeiten in ihre Zimmer schmuggeln und dort regelrecht horten. Das ist interessant, denn häufig wird behauptet, AD(H)S und vor allem die Hyperaktivität entstünde durch einen zu hohen Zuckerkonsum. Klingt so überzeugend, konnte aber bis heute nicht nachgewiesen werden. Umgekehrt wird aber ein Schuh draus: Kinder (und Erwachsene…) mit AD(H)S fahren sehr viel stärker auf Zucker ab, denn sie kicken damit instinktiv ihr oft unterversorgtes Gehirn. Werden dabei viel raffinierter Zucker oder Weißmehlprodukte verzehrt, kommt es leider (wie bei jedem) zu enormen Schwankungen im Blutzuckerspiegel, die sich dann (besonders bei ADHS) wieder negativ auf den inneren Antrieb und die Stimmung auswirken, woraufhin der Wunsch nach einem süßen Snack wieder da ist…
Unregelmäßige Mahlzeiten
Es ist nicht ungewöhnlich für Personen mit ADHS, Mahlzeiten zu vergessen oder einfach keine Lust auf Essen zu haben, weil etwas anderes wichtiger oder interessanter ist. Viele Eltern berichten, dass ihre hyperaktiven Kinder einfach nicht die Ruhe zur Nahrungsaufnahme finden. Bei so manchem ändert sich das auch im Erwachsenenalter nicht.
Zudem sind viele Kinder mit ADHS sehr mäkelige Esser, das heißt, sie können sich mit bestimmten Konsistenzen und Geschmäckern nicht anfreunden und mögen nur relativ wenige Nahrungsmittel. Da die Abneigung gegen Lebensmittel, die ihnen nicht geheuer sind, so unglaublich groß ist, verzichten sie lieber auf eine Mahlzeit als sich zu überwinden. Dass dann am Nachmittag Diva-Time ist und mitunter „die Fetzen fliegen“, verwundert nicht.
Appetithemmende Medikamente
Nimmt man ADHS-Medikamente, ist der Appetit während derer Wirkzeit so gehemmt, dass über viele Stunden nichts gegessen wird und der Körper danach schnell alles nachholen möchte. Es entsteht ein unglaublicher Heißhunger. Wird dann nicht ganz schnell gefuttert, geht plötzlich nichts mehr, und die gutmütigsten Zeitgenossen könnenn sich in menschenfressende Ungeheuer verwandeln. 😉
Gefühlsknäuel
Doof nur, wenn man sich gar nicht darüber bewusst ist, dass man gerade großen Hunger hat. Viele Menschen mit AD(H)S nehmen aufgrund der überhöhten Anzahl an Empfindungen, die ihr Reizfilter durchlässt, ihre Gefühle als wirres Knäuel wahr und können häufig nur schwer erkennen, welches Gefühl genau sich da in ihnen besonders breit macht, geschweige denn, warum. Auf Hunger kommt man da manchmal nicht, besonders, wenn sich gleichzeitig z.B. Wut in einem breit macht.
Kein Filter!
AD(H)S-betroffene Menschen erleben Gefühle sehr viel intensiver. Mit Meinungsverschiedenheiten oder Ungerechtigkeiten umzugehen kostet sie extrem viel Kraft und fordert von ihnen Impulskontrolle und Frustrationstoleranz, die sie aber leider nicht genug besitzen. Deshalb schaukeln sich kleinere Diskussionen bei Menschen mit AD(H)S schnell zu heftigen Streits auf, in denen es auch zu völligem Kontrollverlust kommen kann. Dass Hunger das Fass im Nu zum Überlaufen bringen kann, liegt auf der Hand (siehe oben).
Wie kann ich dieses Wissen für mich nutzen?
Hack 1:
Ich kann lernen, bei Gereiztheit immer kurz innezuhalten und zu überlegen: „Wann habe ich das letzte Mal was gegessen? Habe ich vielleicht (auch) Hunger?“ Das können auch Kinder schon lernen.
Hack 2:
Am besten habe ich immer „Notfallnüsse“ oder zumindest etwas Obst oder ein paar Kekse parat.
Hack 3:
Ich achte verstärkt darauf, regelmäßig zu essen, plane Mahlzeiten aktiv ein, um nicht plötzlich abends mit knurrendem Magen und mieser Laune festzustellen: „Oh, ich hab ja heute noch gar nichts gegessen!“ oder „Mist, hab ja gar nichts Vernünftiges im Kühlschrank.“
Hack 4:
Wenn ich mehr Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Fisch und mageres Fleisch esse und den Konsum von stark zuckerhaltigen und fettigen Lebensmitteln herunterschraube, kann ich meinen Blutzuckerspiegel länger stabil halten und Hungerattacken, übertriebenen Appetit auf Süßes vermeiden und die damit verbundene Reizbarkeit vermeiden.
Hack 5:
Wenn bei meinen Kids Wut und Gereiztheit am Nachmittag ein Thema sind, achte ich darauf, dass irgendetwas beim Mittagessen dabei ist, das mein Kind essen mag, damit es auch satt werden kann. Es wird früher oder später schon lernen, mehr unterschiedliche Nahrungsmittel zu tolerieren.
Hack 6:
Sofern ich Psychostimulanzien (Ritalin, Medikinet o.ä.) einnehme, habe ich mein gesteigertes Bedürfnis nach Nahrung beim Nachlassen der Wirkung des Medikaments „auf dem Schirm“, damit es mich nicht kalt erwischt – womöglich in einer Situation, in der ich nichts Essbares organisieren kann…
Schreibe mir mal über deine Erfahrungen und Ideen zu diesem Thema! Ich freue mich auf deine Nachricht!
Hallo Vera,
ein sehr bereichernder Beitrag, denn ich selbst bin gerne mal „hangry“. Mein betroffenes Kind nimmt seinen Hunger selten wahr und es kommt häufig am späten Nachmittag zu Eskalationen. Ich glaube, du bist da einem zusätzlichen Trigger auf der Spur! Lieben Dank dafür.
Hallo liebe Kathrin,
super, dass du den schönen Begriff „hangry“ ins Spiel bringst – sehr, sehr treffend! Ich bin neulich wieder über dieses Thema gestolpert, und eigentlich weiß ich sehr genau, was unerkannter Hunger so anrichten kann. Im Alltag denke ich dann aber manchmal selbst nicht dran. Habe mir gerade direkt ein „h“ auf die Hand geschrieben für: „Hangry?“ Danke also auch dir!