Hä, wieso Hürdenläufer? Was für Hürden? Wer soll überhaupt der Läufer sein? Und warum sollte der über die Hürden wollen? Und was hat ADHS damit zu tun?
Obwohl ich bestimmt ab und zu unüberlegte Dinge tue, habe ich mir bei diesem Namen tatsächlich etwas gedacht. Höchstwahrscheinlich liegt es sogar auf der Hand, was ich mit diesem Namen ausdrücken möchte. – Ja genau: ADHS kann Menschen vor Schwierigkeiten, also „Hürden“, stellen, die es gilt zu nehmen, um wie alle anderen durch den Alltag zu kommen. So weit so einfach.
Sag mal, passiert das bei dir gerade auch? In meinem Kopf entsteht bei diesem Gedanken unweigerlich das Bild von Läufern auf einem Sportplatz, die alles geben, um beim Lauf gut abzuschneiden. Erstaunlich ist bloß: Nur auf manchen Laufbahnen stehen Hürden, für die anderen ist die Bahn frei.
Stellen wir uns die Situation mal bis zum Ende vor: Der erste Läufer überquert die Ziellinie, jubelt und lässt sich feiern. Die anderen folgen nach und nach, bis auch der letzte durchs Ziel ist. In deiner Vorstellung: Wer zählt wohl nicht zu den gefeierten Siegern?
Vermutlich sind wir uns einig, dass die Hürdenläufer tendenziell oder vielleicht sogar durchweg schlechter abschneiden als die, die ungestört einfach so durchlaufen können. Zumindest schleppen sich die super trainierten Hürdenläufer in meiner Vorstellung eher ziemlich abgerackert und verspätet über die Zielgerade.
Ich persönlich habe bei diesem inneren Bild ein sehr unangenehmes Gefühl. Wörter wie „unfair“ und „frustrierend“ poppen in mir auf. In so einer Situation würde doch wohl jeder als Hürdenläufer aufgeben und rufen: „Das mach ich nicht mehr mit! Das liegt doch nicht an mir, dass ich langsamer bin! Das sind die Hürden!“ Vermutlich hätten die Veranstalter Verständnis, man würde sich für die fehlende Fairness entschuldigen, der Lauf würde anders oder gar nicht gewertet und in Zukunft gerechter gestaltet.
Jetzt wird es leider noch skurriler: Was, wenn der Hürdenläufer gar nicht merkt, dass die schnelleren Läufer es viel leichter haben? Wenn er gar nicht weiß, dass nur bei ihm und ein paar anderen Läufern Hürden stehen? Und was, wenn niemand außer den Hürdenläufern selbst die Hürden sehen kann? Die Hürden wären also quasi unsichtbar für alle anderen. Ich weiß, das klingt absurd.
Nehmen wir aber trotzdem mal an, es wäre so: Was wäre dann? Dann würde sich ein Hürdenläufer natürlich nicht beschweren, denn er wüsste ja nichts von seinen schlechteren Bedingungen. Er würde denken, dass andere dasselbe täten wie er, nur besser und scheinbar mit Leichtigkeit. Er hätte einfach das Gefühl bedeutend unsportlicher zu sein als die meisten anderen. Dass er einfach schlechter sei. Ein Loser eben. Genauso würden es auch die anderen Läufer und das Publikum sehen. Sie würden denken: „Da hat wohl jemand nicht trainiert.“ oder „Der hat nix drauf. Was will der überhaupt hier? Der gehört hier gar nicht hin!“
Der Hürdenläufer hätte bald nicht nur keinen Spaß mehr an solchen Veranstaltungen: Sie würden ihm sicherlich auch Alpträume, Bauchschmerzen und Angstzustände bescheren. Sein Selbstbewusstsein wäre ratzfatz dahin. Eine Zeit lang würde er das schätzungsweise noch versuchen zu überspielen – vielleicht mit Kaspereien. Ich könnte mir vorstellen, dass er irgendwann nicht einmal mehr trainieren wollen würde – wozu auch?! Er würde sich einfach hängen lassen und womöglich versuchen, sich vor den Läufen zu drücken. Ginge aber nicht. Die sind ja Pflicht!
Selbst der ehrgeizigste Hürdenläufer, der sich einfach nicht unterkriegen lassen will und im Training und beim Wettkampf alles gibt, um mithalten zu können, könnte diese Anstrengung nicht ewig durchhalten. Er würde früher oder später krank, wäre ausgebrannt und müsste aufgeben.
Halleluja! Zum Glück ist das bei AD(H)S und den damit zusammenhängenden Hürden ganz anders! Zum Glück sind die nicht unsichtbar und jeder weiß Bescheid! Keiner würde anzweifeln, dass es AD(H)S oder damit verbundene Schwierigkeiten gibt. Absolut niemand würde zum Beispiel behaupten, dass man AD(H)S mit etwas mehr Anstrengung, frischer Luft, gesunder Ernährung und vor allem Konsequenz in den Griff bekommen könnte. Zum Glück wissen alle betroffenen Menschen, ob groß oder klein, weshalb ihnen manches schwerer fällt als anderen und wie sie trotzdem super klarkommen. Und zum Glück wissen Eltern und Pädagogen – na, einfach alle! – ganz genau, wie sie mit AD(H)S-Schwierigkeiten umgehen können. Es ist auch wirklich ein riesiges Glück, dass auf politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ebene absolut alles getan wird, um so viele Hürden wie möglich abzubauen! Wie wunderbar, dass AD(H)S nichts ist, wofür man sich schämen muss und dass jeder die wunderbaren Stärken von Menschen mit AD(H)S schätzt, die unsere Gesellschaft voranbringen. Deshalb läuft ja auch alles so super bei uns!
Schluss mit den Fantastereien! Her mit ein bisschen Realität:
Wäre unsere Gesellschaft schon so weit wie im vorherigen Absatz erträumt, wärst du vermutlich nicht auf dieser Webseite. Denn nicht nur Betroffene selbst kämpfen sich noch immer durch ihr Leben, ohne ein Gefühl dafür zu haben, was überhaupt ihre Hürden sind und wie sie ihre besonderen Stärken nutzen können um mit solchen Herausforderungen umzugehen. Auch Familienangehörige von Menschen mit AD(H)S stoßen immer wieder auf Hürden, die sie sich nicht erklären können und die sie einfach nicht zu überwinden, umlaufen oder aus dem Weg zu räumen wissen. Genauso geht es unzähligen Pädagogen! Und Psychologen! Und Arbeitgebern!
Die Folgen sind Unverständnis, Frust, Schuldzuweisungen, Überforderung auf allen Seiten. Das ist, wie ich finde, genauso tragisch wie unnötig. Und damit sich das ändern kann, bleibt uns meines Erachtens nur eines:
AD(H)S muss sichtbarer werden!
Tja, und so entstanden die
www.adhs-hürdenläufer.de.
Tadaaa!
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