In Deckung! – Reizbeschuss!!!

Okt 28, 2023 | 0 Kommentare

Vielleicht kennst du das ja: Du fühlst dich gestresst, und jeder zusätzliche Reiz – wie klein auch immer – droht das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen, die Bombe zum Platzen zu bringen. Geräusche, Gefühle, Gerüche, Gedanken (lauter so Worte mit „Ge-“) prasseln auf dich ein und du hast keine Chance mehr sie zu filtern und so irgendwie wieder Herr bzw. Frau der Lage zu werden. Du hast das dringende Bedürfnis schreiend wegzulaufen, was aber nicht unbedingt passend erscheint. So schlägt deine Verzweiflung wild um sich (hoffentlich nur verbal), was dann dein Umfeld schockierend und völlig unerwartet findet, oder du ziehst dich in dich selber zurück und zerkrümelst förmlich innerlich.

Dieser Zustand der Reizüberflutung kann uns – vor allem die von uns mit einer AD(H)S – überall dort treffen, wo viele Menschen, Eindrücke, Lärm, Stimmungen und so weiter auf uns einprasseln: Eine Familienfeier, ein Kneipenbesuch, ein Vormittag in einer Schulklasse oder einfach der Einkauf im Supermarkt.

Was genau passiert mit uns in diesen Momenten?
Wie viele Reize pro Sekunde in unserem Gehirn eintreffen, kann man offenbar nicht so genau sagen, denn mal liest man, es seien 70 000, mal heißt es 11 Millionen. Ist wirklich ein krasser Unterschied, aber eines kann man trotzdem mit Sicherheit sagen: Es sind viele Reize. Sehr viele. Viel mehr, als wir es uns vorstellen können – und als unser Gehirn verarbeiten könnte!

Zum Glück filtert unser Gehirn diese Wahrnehmungen und lässt „nur“ vierzig (anderen Forschern zufolge z.B. auch 70…) Reize pro Sekunde in unser Bewusstsein vordringen, mit denen wir uns unsere Vorstellung der Realität zusammenbasteln. Das ist immer noch eine schwindelerregende Meisterleistung! An dieser Stelle mal ein gigantisches Dankeschön an mein Gehirn: Du machst einen unglaublichen Job! Ich bin dein größter Fan!

Entschuldige bitte… – Der Gedanke an all das, was die Natur da in jedem von uns hervorgebracht hat, versetzt mich immer wieder in Ehrfurcht und Begeisterung. Und deshalb finde ich es absolut verzeihlich und sogar völlig okay, dass mein Reizfilter etwas durchlässiger ausgefallen ist als bei den meisten anderen. So ist das bei Menschen mit AD(H)S nun einmal. Wie viele Reize mehr tatsächlich in unseren Gehirnen ankommen, das weiß ich nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Wissenschaft das so genau weiß. Ist sicher auch sehr individuell.

Was aber offenbar klar ist, ist, dass es bei Menschen mit AD(H)S und anderen neurodivergenten Menschen wie z.B. Autisten eine größere Reizfülle zu bewältigen gilt als bei einem durchschnittlichen Gehirn. Das führt zu einer etwas anderen Sicht auf die Dinge, erhöhter Sensibilität, viel Kreativität und ungewöhnlichen aber manchmal coolen Herangehensweisen – und (on the downside) gelegentlich – bei manchen regelmäßig – zu Reizüberflutung und damit verbundenem Stress.

Kommen wir in eine Situation mit vielen, vielen Reizen (Bei mir passiert das z.B. häufig bei Menschenansammlungen und sich überlappenden Gesprächen.), dann spüren wir meistens sogar körperlich, wie unser Gehirn unter Beschuss gerät und wie wir die Überforderung und das immense Unwohlsein, die daraus in unserem Inneren entstehen, ebenso wenig filtern und kontrollieren können wie das Einprasseln der Reize von außen. Das Chaos und der totale Kontrollverlust versetzen uns in einen Ausnahmezustand, in dem unser Denken aussetzt. Ältere Teile unseres Gehirns übernehmen dann das Ruder. Diese ermöglichen uns genau drei Reaktionen: Flucht, Angriff oder Erstarren (die 3 “F“s: fight, flight und freeze). Je nach unserer Sozialisation und der jeweiligen Lage entscheiden wir uns dann eher unbewusst für eine dieser Optionen. Fallen dir Situationen ein, in denen du bei einer Überforderung durch Reize entweder unangemessen stark reagiert hast, das Weite gesucht hast oder einfach nur noch so dagesessen und quasi vegetiert hast, bis der Sturm vorüber ging? Genau das erleben viele Menschen mit AD(H)S häufig.

Was kann uns helfen?
Also: Erst einmal ist es wichtig, Bescheid zu wissen, was in diesen Momenten mit uns geschieht und warum, und auch in welchen Konstellationen und Settings genau uns das in der Regel passiert. Dieses Wissen ermöglicht es uns, Vorkehrungen zu treffen, um gar nicht erst Reizüberflutung erfahren zu müssen. Wir können bestimmte „Extremsituationen“ meiden oder anpassen oder uns besser auf sie vorbereiten. „Vorbereiten?“, höre ich dich fragen: „Wie denn?“

So eine Vorbereitung könnte darin bestehen, etwas dabei zu haben, das dich von der überfordernden Situation ablenkt. Etwas zum Spielen in deiner Tasche, etwas zum Beruhigen (ein Foto oder ein Gegenstand von einem geliebten Menschen) oder einen kleinen Block zum Malen oder Kritzeln oder etwas zum Lesen. Ein autistischer Schüler zoomte sich während unserer Kursfahrt regelmäßig mithilfe eines Mathebuchs aus der Wuseligkeit des Geschehens. Eine bemerkenswerte Strategie! Manche sagen sich innerlich ein selbst gewähltes Mantra vor. Ohrstöpsel (In meinem Newsletter habe ich gerade ziemlich hilfreiche Stöpsel „beworben“. Hast du eigentlich schon meinen Newsletter abonniert?) oder Kopfhörer können auch eine Rettung darstellen.

Am Besten kann es aber sein, wenn du die Möglichkeit hast, dich kurz – oder auch etwas länger – zurückzuziehen, denn ein bisschen Ruhe und frische Luft, ein paar (parasympathische) Atem- und Entspannungsübungen auf dem „stillen Örtchen“ oder etwas Bewegung draußen oder auf dem Flur helfen deinem Gehirn, sich wieder zu normalisieren. Entweder es geht dir danach besser und du kommst wieder besser klar in der stressauslösenden Situation oder du tust dir selbst und vielleicht auch den anderen Menschen um dich herum einen Gefallen, indem du die Veranstaltung verlässt.

Es hilft, wenn Du selbst, deine Freunde, Familie, Pädagogen und Kollegen deine Neigung zur Reizüberflutung kennen und dich dabei unterstützen, in diesen Situationen für dich selbst zu sorgen. Ein „Nun bleib doch! Sei doch nicht so unsozial!“ kann uns in Teufels Küche bringen. Lasst uns sensibel mit uns selbst und mit anderen umgehen, denn eine Situation, die für eine Person total gemütlich und einfach nett und gesellig ist, kann von einer anderen Person schon als große Herausforderung wahrgenommen werden und zu enormem Stress führen!

Übrigens:
Klassische Orte, an denen viele, viele Menschen durchgehend von Reizen überflutet werden und leider häufig keine oder nicht genügend Möglichkeiten haben sich zu schützen und das Beste für sich (und alle anderen) zu tun, sind Kitas und Schulen. Pardon… ! Das Thema ist immer so ein Stimmungsdämpfer, ich weiß. War mir nur ein Anliegen, noch einmal darauf hinzuweisen, denn da muss sich ganz dringend superviel ändern. Kann man gar nicht oft genug sagen, oder? Daher darfst du diesen Text (wie auch alle meine Beiträge) sehr gerne teilen. DANKE!

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