Diesen Satz höre ich immer wieder. Auf der einen Seite erzeugt er einen gewissen Unmut in mir, weil er die zum Teil schwerwiegenden Herausforderungen, denen Menschen mit AD(H)S im Alltag gegenüberstehen, relativiert oder sogar negiert. Nach dem Motto: „Stell dich nicht so an, JEDER hat diese Probleme doch manchmal.“ oder „Jetzt tu doch nicht so, als wärst du was Besonderes. Das ist doch bei jedem so, nur dass nicht jeder deshalb so rumheult.“
Wann hat man denn AD(H)S?
Die Diagnose AD(H)S bekommt man nicht, weil man maaaaal unkonzentriert ist. Auch nicht, weil man maaaal ausrastet. Es muss eine Mindestanzahl bestimmter Kriterien in den Bereichen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität erfüllt sein, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen zeigen und den Alltag (Schule, Arbeit, Beziehungen) stark beeinträchtigen. Die Auffälligkeiten müssen schon vor dem 7. Geburtstag und seit mindestens 6 Monaten bestanden haben. Andere Erkrankungen müssen als Ursache ausgeschlossen werden. Erst dann gibt es eine Diagnose.
Nicht jeder hat AD(H)S, aber vielleicht einzelne „Symptome“
Und trotzdem enthält der Satz: „Jeder hat doch ein bisschen ADHS.“ einen Funken Wahrheit: Natürlich zeigt jeder mal das ein oder andere Verhalten, das auch auf der Liste der ADHS-Symptome aufgeführt ist. Ist doch normal! Menschen mit AD(H)S sind ja schließlich keine Aliens. Auch ihre Gehirne sind nicht grundlegend anders, sondern weisen nur bestimmte Besonderheiten auf. Und die Probleme, die Leute mit AD(H)S haben, haben in stark abgeschwächter Form die allermeisten Menschen ab und an: Viele sind, besonders in manchen Lebensphasen oder Situationen, sehr dünnhäutig. Oder können sich schwer zu bestimmten Tätigkeiten durchringen. Oder sie lassen sich leicht ablenken und fühlen sich wie erschlagen von einer zu großen Aufgabenfülle, Menschenansammlungen oder von Kritik. Jeder hat es schon einmal erlebt, dass die Gefühle mit ihm/ihr durchgegangen sind. Niemandem fällt es total superleicht, seine Impulse zu kontrollieren oder mit Frust klarzukommen. Rastlosigkeit und innere Unruhe hat bestimmt auch jeder schon mal erlebt.
Bauchschmerzen ≠ Darmverschluss
Übertragen wir das aber mal auf andere klinische Diagnosen: Sagen wir, Sven hat einen Darmverschluss und ganz fürchterliche Bauchschmerzen. Seine Freundin Sabine kann mit ihm fühlen, denn sie kennt Bauchschmerzen, wenn auch keine wirklich schlimmen. Sie hatte zwar noch nie einen Darmverschluss, aber ab und zu ziemlich unangenehme Blähungen. Sie weiß daher, dass Bauchschmerzen schlimm sind, und dass, wenn Sven sagt, dass die Schmerzen unerträglich sind, sich das grauenhaft anfühlen muss. Sie erinnert sich an ihre eigenen Bauchschmerzen und stellt sich vor, wie schlecht es ihrem Freund gehen muss. (Sie wird aber vermutlich nicht zu ihm sagen: „Jeder hat doch mal ein bisschen Darmverschluss.“ 😉 )
Fazit
Eigentlich ist es doch schön, dass jeder, ähnlich wie Sabine in Anbetracht des Darmverschlusses ihres Liebsten, persönlich etwas mit den AD(H)S-Symptomen anfangen kann und schon Situationen erlebt hat, die Personen mit AD(H)S passieren (z.B. sich aus dem Haus ausschließen, Termine vergessen oder in einem Gespräch eskalieren). Das ermöglicht Mitgefühl und ein Gefühl der Verbundenheit.
Wichtig dabei ist aber: Nur, weil man gewisse Symptome schon einmal erlebt hat, hat man kein AD(H)S. Auch nicht manchmal! Und nur, weil man auch manchmal vergesslich oder zappelig ist, kann man sich kein Bild davon machen, welche psychischen Auswirkungen stark ausgeprägte Symptome langfristig haben. Wie es sich anfühlt, sich selbst nicht vertrauen zu können und immer damit zu rechnen, wieder etwas verbockt zu haben.
Wie fühlt sich AD(H)S an? – Ein klitzekleiner Einblick
„Ist der Termin beim Orthopäden wirklich heute? (mulmiges Gefühl) Steht zwar so im Kalender, aber vielleicht habe ich den auch wieder mal falsch eingetragen. (totale Unsicherheit, das Gefühl, zu „schwimmen“) War der wirklich um 15 Uhr? Letztes Mal dachte ich das auch, und da war ich zu spät. (Scham) Doof, dass ich mein Handy verlegt habe, sonst könnte ich das jetzt nachgucken. (Sorge, das Handy tagelang nicht zu finden). Oh Mist, ich war ja auch mit Beate verabredet! Das habe ich ganz vergessen. Die wird mich hängen. (Herzrasen, Panik, Verzweiflung) Das ist jetzt das 3. Mal, dass ich sie versetze. Wo ist eigentlich meine Versichertenkarte? (Alaaaarm!) Wie viel Kram hab ich denn in meiner Handtasche?! (schon wieder abgelenkt) Oh shit, was ist das denn? Die zweite Mahnung vom Fliesenleger. (Scham, Selbstvorwürfe) Und da ist ja auch mein zweiter Haustürschlüssel! (Erleichterung!) Puh, gut, dass ich meine Handtasche mal wieder durchforste. (gewisser Stolz) Was wollte ich noch mal suchen? (Festplatte gelöscht) Hä? Das gibt’s doch gar nicht! (Wut auf das eigene Gehirn) Ich wollte doch was suchen! Mist, schon 5 nach 3. (Druck, soziale Bewertungsangst) Ach ja, meine Versichertenkarte! (Geistesblitz, ganz kurzfristige Erleichterung) Die wollte ich suchen… Ne, nicht da. Verdammt! (dringendes Bedürfnis schreiend wegzulaufen) Mein Portemonnaie ist noch in der Einkaufstasche. Typisch… (Frust und etwas Beruhigung, zumindest zu wissen, wo es sich befindet). Ich war mir so sicher, dass ich es eingesteckt hatte. Habe ich doch noch kontrolliert. (Unglaube) Oder war das gestern? (totale zeitliche Desorientierung und die dringende Frage: „Warum schaffen andere das?!“) Hoffentlich ist der Termin doch an einem anderen Tag. Warum habe ich zwei verschiedene Socken an?“
DAS erlebt nicht JEDER in so geballter und häufig auftretender Form. Und es gibt noch so viele Lebensbereiche, in denen noch ganz andere Probleme auftreten. Fragt doch mal nach, wie sich AD(H)S z.B. für die Betroffenen in deinem Freundeskreis oder deiner Familie anfühlt – ohne sofort zu rufen: „Das habe ich auch!“ oder „Das passiert doch jedem mal.“ Einfach nur zuhören und sich ein Bild davon machen. Es wird spannend sein zu erfahren, wie unterschiedlich Wahrnehmung eben doch sein kann.
0 Kommentare