Sad but true…
Da für viele Kinder mit AD(H)S das häusliche Lernen eher nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen zählt und Eltern immer wieder von regelrechten Hausaufgabenkriegen berichten, verwundert es nicht, dass auch das Vokabellernen eine echte Herausforderung sein kann – sowohl für das jeweilige Kind als auch für die Erwachsenen, die unterstützend tätig sein „wollen“ 😉 .
Warum fällt den Kindern das Einprägen denn so schwer?
Zum einen sind besonders Kinder mit AD(H)S nachmittags nicht mehr wirklich aufnahmefähig, da der Schultag ihnen alles abverlangt. Viele sind völlig erschlagen von der Fülle an Reizen, die sie in der Schule verarbeiten müssen und den starken Gefühlen, die eine so dichte soziale Situation in ihnen auslöst. Manche Kids haben den ganzen Schultag über gegen ihre Impulse und ihren Bewegungsdrang angekämpft und haben ein immenses Bedürfnis nach körperlicher Aktivität. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, welchen inneren Widerstand dann ein weiteres Sitzen vor schulischen Aufgaben auslösen kann.
Nimmt ein Kind mit AD(H)S am Vormittag Medikamente und erlebt es, wie es relativ gut Reize ausblenden und seine Aufmerksamkeit auf die jeweilige Aufgabe richten kann, ist es umso frustrierender am Nachmittag nach einem langen Schultag und ohne die Wirkung des Medikamentes noch bei der Sache bleiben zu sollen.
Menschen mit AD(H)S brauchen in der Regel mehr Wiederholungen, um sich Inhalte einprägen zu können. Man sollte also nicht erwarten, dass Vokabeln sofort „sitzen“, sondern dem Kind vertrauen, dass die Wörter sich nach und nach einprägen werden. Es hat nichts mit Intelligenz oder Willenskraft zu tun, dass es mitunter etwas länger dauert!
Ein paar der im Folgenden aufgeführten Tipps sind auch für alle möglichen Arten des Auswendiglernens hilfreich – und helfen nicht nur Kindern mit AD(H)S, sondern eigentlich jedem!
Tipp 1: Den richtige Moment finden
Überlege zusammen mit deinem Kind, wann ihm das Vokabellernen am besten „in den Kram“ passt. Sollten gemeinsame Überlegungen nicht weit führen, beobachte dein Kind und lege dann fest, in welchen Momenten in der Woche/am Tag Vokabeln & Co. abgefragt werden sollen. Direkt nach der Schule ist womöglich kein guter Moment. Vor dem Computerspielen oder Fernsehen übrigens auch nicht, da sich die Inhalte dann nicht so gut einprägen. Ich gebe zu, das perfekte Timing gestaltet sich schwierig… Vor oder nach dem Abendessen kann ein guter Zeitpunkt sein. Achtung: Gemeinsames Lernen mit Hunger führt mit großer Wahrscheinlichkeit zum Eklat! Ein kleiner Snack vor dem Loslegen kann die Situation deutlich entspannen.
Tipp 2: Weniger ist mehr!
Frage nur wenige Vokabeln ab, je nach Alter des Kindes und Schwierigkeitsgrad der Wörter vielleicht auch nur 5 bis 10 am Tag. Das ist besser, als wenn das Lernen und Üben zu lange dauert und ein rotes Tuch wird. Bei wirklich großen Problemen vielleicht tatsächlich sehr kleinschrittig vorgehen: Sagen wir fünf Vokabeln beim ersten Mal erst einmal einführen, also das zu lernende Wort und die deutsche Bedeutung sagen, dem Kind die Schreibweise zeigen und es das Wort ggf. wiederholen lassen. In einem zweiten Schritt Wort für Wort in der Fremdsprache vorlesen und ins Deutsche übersetzen lassen. Genügend Zeit zum Übersetzen lassen, keinen Zeitdruck aufbauen. Schwer zu merkende Wörter öfter abfragen. Auch, wenn die Anforderung sehr gering ist, jedes richtige Wort positiv anerkennen. Sei Cheerleader einer Erfolgsstory! Nicht unbarmherziger Kontrolleur! Kommt dein Kind ins Grübeln, darfst du zur Frustvermeidung auch vorsagen (wenn das für das Kind okay ist). Erst, wenn es in diese Richtung gut klappt, vom Deutschen in die Fremdsprache übersetzen lassen. Und die Anstrengungsbereitschaft und den damit erzielten Erfolg „feiern“: „Yeah, du hast dich super konzentriert! Schon wieder 5 Wörter mehr, die du kannst!“ So lernt das Kind: „Ah, so einer/eine bin ich also: Ich kann mich konzentrieren und mir Wörter gut merken!“ Ein solches Selbstbild schafft Motivation für weiteres Vokabellernen. Nicht jedes Kind mit ADHS braucht eine so kleinschrittige Herangehensweise, deshalb gilt es genau zu schauen, ab wann das Kind unter- bzw. überfodert ist und den dazwischenliegenden Schwierigkeitsgrad zu finden, mit dem es sich super erfolgreich arbeiten lässt.
Tipp 3: Mit „Eselsbrücken“ arbeiten
Ich liebe skurrile Eselsbrücken, auch wenn meine Kinder sie irgendwie „cringe“ finden. Aber gerade dadurch, dass sie so „cringe“ sind, haften sie in der Regel besser im Gedächtnis. Und wir lachen dabei! So spiele ich meinem Sohn vor, wie „Victor mit dem Siegeskranz“ vor einer riesigen Schar von Menschen steht, er, der Sieger (lateinisch: victor). Ich sage mehrmals Dinge wie „Feiert mich, denn ich bin Victor mit dem Siegeskranz“ und mache affig das victory-Zeichen. Oder ich erfinde, dass die Sklaven im alten Rom sich immer freundlich zugewunken und mit „Servus!“ gegrüßt haben (lateinisch servus = Sklave). Wenn er beim späteren Abfragen nicht gleich auf die Wörter kommt, reicht ein angedeutetes Winken oder ein „V“ mit Zeige- und Mittelfinger, und schon ist das Wort wieder da, bis er schließlich auch ohne diese Krücke drauf kommt. Natürlich bietet sich nicht jedes Wort für eine Eselsbrücke an, aber mit der Zeit wird man immer kreativer! Welche Ideen für Eselsbrücken hat dein Kind selber? Eigene Eselsbrücken sind noch viel besser!
Tipp 4: Lachen beim Lernen
Absolut empfehlenswert! Es steigert die Motivation und entspannt. Außerdem ist Lernen besonders effektiv, wenn es mit (positiven) Gefühlen verbunden ist! Das Wichtigste aber vielleicht: Ihr verbringt eine gute Zeit miteinander!
Tipp 5: Vokabelkarten
Das sind Karteikarten, auf denen das zu übende Wort in der Fremdsprache auf der einen Seite, die deutsche Übersetzung auf der anderen Seite in möglichst großer und leserlicher Schrift vermerkt wird. Diese Karten sind sehr hilfreich, weil das Kind sich so das Schriftbild einprägen kann. Man kann sie auch super auf dem Tisch ausbreiten (besonders, wenn man ein paar mehr Vokabeln hat, die es zu wiederholen gilt), so dass sich das Kind die herauspicken kann, die es genau weiß und sie, nachdem es die richtige Lösung gesagt hat, umdrehen und vom Tisch nehmen darf. Die nicht bekannten dürfen kurz angeschaut und eingeprägt werden. Nach und nach sind dann alle Karten vom Tisch. Ein befriedigendes Gefühl! Besonders auch beim nächsten Mal, wenn das Ganze schon viel schneller geht. Diese Methode kann das Kind auch prima selbstständig anwenden. Man muss das Ganze nur initiieren, indem man die Karten auf dem Tisch ausbreitet und dem zufällig durch die Küche schleichenden Spross aufträgt: „Mein Schatz, in 5 Minuten gibt es Abendessen. Lern mal eben die Vokabeln vom Tisch, dann kann ich den Tisch decken!“
Mehraufwand: Ein Kind mit AD(H)S wird vermutlich nicht dazu zu bewegen sein, die Vokabeln selbst auf Karten zu schreiben. Es ist Arbeit für die Eltern, aber es lohnt sich. Wenn das Kind diese Methode erst einmal als hilfreich erlebt hat, wird es sie später womöglich sogar eigenständig vorbereiten und durchführen.
Übrigens: Phase 6 ist ein prima Vokabellernprogramm, das viele Kinder motiviert. Einen Versuch ist es Wert. (Bei unseren hat es allerdings nicht geklappt, weil unsere beiden die Stimme zu unfreundlich und emotionslos fanden… Das macht tatsächlich auch lernpsychologisch Sinn: Eine positive Zusammenarbeit mit einer Person macht es unserem Gehirn leichter, Inhalte als bedeutungsvoll abzuspeichern, weil sie emotional aufgeladen sind.)
Tipp 6: Zappeln erwünscht!
Beim Abfragen von Vokabeln, Bundesländern & Co. oder beim Kopfrechnen kann es helfen, wenn das Kind dabei körperlich aktiv ist. Wir selbst können auch oft besser auswendig lernen, wenn wir dabei auf und ab laufen. Es kann daher förderlich sein, wenn Kinder beim Vokabelnlernen auf dem Sofa, dem Boden oder dem Sitzball „herumhampeln“ – auch, wenn es manchmal anstrengend für uns ist. Auch ein gemeinsamer Spaziergang kann eine tolle Idee sein.
Wenn das jedoch zu so viel Unruhe führt, dass die Konzentration flöten geht: Erst aktiv sein, dann zusammen tief durchatmen, eine gerade Arbeitshaltung einnehmen und sich dann erst an die Vokabeln machen. Ein Rollbrett oder Igelbälle unter den Füßen, Therapieknete oder ADHS-Speilzeug in den Händen können helfen, dem Bewegungsdrang auch im Sitzen gerecht zu werden. Vielen hilft das.
Sollten die Vokabeln vor oder nach den Hausaufgaben abgefragt werden: 5-10-minütige Bewegungs- oder Snackpause einplanen. Auch zwischen den einzelnen Hausaufgaben macht es Sinn, den Kreislauf und die Gehirnaktivität mit Hüpfen auf dem Trampolin, einer Runde Hula-Hoop oder was auch immer gerne gemacht wird, anzukurbeln. Timer stellen, gemeinsam tief durchatmen und weiter geht´s!
Jetzt kommt ihr: Was hilft eurem Kind beim Einprägen der Vokabeln? Bin gespannt und freue mich auf eure Ideen!
Hallo Vera,
Das ist ein super hilfreicher Text. Wir sitzen so häufig an den Vokabeln und es will einfach nicht klappen. Aber zu meiner Schande muss ich gestehen bin ich eher der Lehrertyp gewesen. Ab jetzt versuchen wir die Tipps Mal aus. Das wird bestimmt helfen:-)
Liebe Verena,
danke für deinen tollen Kommentar! Es ist überhaupt keine „Schande“ es vorher so gemacht zu haben, wie wir es vielleicht früher selbst erlebt haben oder wie es die meisten anderen machen. Für viele geht das Konzept ja anscheinend auch auf! Aber bei AD(H)S kann es hilfreich sein, ein bisschen tiefer in der Trickkiste herumzustöbern. Deshalb freue ich mich selbst auch über jeden Tipp, der das Lernen harmonischer und erfolgreicher macht. Ich drücke euch die Daumen, dass das Vokabellernen euch jetzt mehr Spaß bereitet und die Vokabeln besser „hängen bleiben“.